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Neuer Weg aus der Sucht

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Neuer Weg aus der Sucht
Absolute Enthaltsamkeit für Alkoholkranke ist kein Dogma mehr. Ein Psychologie-Professor in Nürnberg hat ein bundesweit einmaliges Alternativprogramm zur Abstinenz entwickelt. Behandlungsziel: Kontrolliertes Trinken.

Bernd Riedlinger (Name geändert) ist seit mehr als 15 Jahren nicht mehr nüchtern ins Bett gegangen. Abend für Abend betäubt sich der 42jährige Programmierer vor dem Fernseher mit Bier. Tagsüber quälen ihn Kopfschmerzen, er hat zunehmend Schwierigkeiten, sich auf die Arbeit zu konzentrieren und immer häufiger Streit mit seiner Frau. Die Sauferei macht mich kaputt, sagt er sich. Aber ein Leben ohne Alkohol ist für ihn unvorstellbar. Da liest er in seinem Lokalblatt eine Notiz über das „Ambulante Gruppenprogramm zum kontrollierten Trinken” beim Caritas-Verband in Nürnberg. Er hat Glück und bekommt einen Platz. Nach einer medizinischen und psychologischen Untersuchung nimmt Riedlinger mit 14 Gleichgesinnten einmal wöchentlich an zwölf von Therapeuten geleiteten Sitzungen teil. Kleinster gemeinsamer Nenner in der Gruppe: weniger trinken. Die Teilnehmer protokollieren von Anfang an in einem Tagebuch, wann und bei welcher Gelegenheit sie wieviel Alkohol konsumieren. Nach drei Wochen Analyse legt jeder sein persönliches Therapieziel fest. Riedlinger nimmt sich vor, künftig nicht mehr als zwei Bier täglich oder zwölf pro Woche zu trinken, außerdem wöchentlich einen „trockenen Tag” einzulegen. Es fällt ihm schwer, sein tägliches Feierabendritual zu durchbrechen. In der ersten kontrollierten Woche läßt er sich an drei Tagen vollaufen, an vier gelingt es ihm, sein Limit einzuhalten. Ein erster Schritt. Seinen Mitstreitern geht es ähnlich. Bei den Treffen hilft man sich gegenseitig über Rückschläge hinweg, spricht über die besten Strategien, um König Alkohol auszumanövrieren. In der vierten Woche hält Riedlinger den ersten Abend ohne Bier durch. „Das war ein tolles Gefühl”, erinnert er sich. Mittlerweile, drei Monate nach der letzten Sitzung, bleibt er zuweilen an drei Tagen in der Woche nüchtern. Der Nürnberger Mäßigungslehrgang ist einmalig in Deutschland. Wesentlicher Unterschied zu den gängigen Therapien: Die Teilnehmer entscheiden selber, wieviel sie trinken oder ob sie ganz abstinent leben wollen. „Wir begrüßen jeden Schritt – und sei er noch so klein”, sagt Joachim Körkel, Initiator des Projekts und Psychologie-Professor an der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg. Mittlerweile haben 25 Männer und Frauen das Programm absolviert – 20 von ihnen galten laut einschlägiger diagnostischer Verfahren als abhängig. Ergebnis: Im Schnitt halbierte sich der Alkoholkonsum, die Zahl abstinenter Tage verdoppelte sich. In Großbritannien, Kanada, Australien und den USA gibt es bereits seit einigen Jahren Kurse, die kontrolliertes Trinken trainieren, sowie entsprechende Selbsthilfegruppen. Die Erfolgsquote liegt verschiedenen Studien zufolge in etwa so hoch wie bei abstinenzorientierten Therapien. So kamen US-Forscher bei Nachuntersuchungen im Schnitt auf einen Anteil von 65 Prozent kontrolliert Trinkenden. Für viele Suchthelfer und vor allem Selbsthilfeorganisationen wie die Anonymen Alkoholiker sind Mäßigungsprogramme allerdings Ketzerei. Alkoholismus gilt als unheilbare Krankheit, die allein durch absoluten Verzicht auf den „Stoff” zum Stillstand gebracht werden kann. Schon die geringste Menge Alkohol, so die Warnung, führe automatisch zurück in den Teufelskreis der Sucht. Diese Vorstellung beruht im wesentlichen auf den Thesen des amerikanischen Psychiaters E. M. Jellinek und seinem Standardwerk „The Disease Concept of Alcoholism” aus dem Jahr 1960. Damals bedeutete seine Arbeit für Abhängige tatsächlich einen großen Fortschritt, löste sie doch das Bild des charakterlosen Säufers durch das des behandlungsbedürftigen Patienten ab. Bewiesen wurde Jellineks Theorie allerdings nie. Im Gegenteil: Seit 1964 haben Experimente immer wieder den von ihm postulierten, biochemischen Automatismus widerlegt, der den freien Willen des Süchtigen ausschalten soll. Ex-Trinkern, denen als Vitaminpräparate getarnte Alkoholika verabreicht wurden, entwickelten keinen unbändigen Drang nach mehr Schnaps. „Die berühmte Weinbrandpraline, die unweigerlich zum Absturz führt”, sagt Körkel, „ist nichts als ein Mythos.” Bei Nachuntersuchungen finden Wissenschaftler zudem immer wieder Ex-Abhängige, die – nach einer Abstinenz-Therapie – mäßig trinken. Fakten, die nicht zum Glaubensbekenntnis der Anonymen Alkoholiker passen. Das einschüchternde Credo der Abstinenzler lautet: „Wir wissen, daß kein Alkoholiker jemals wieder normal trinken kann.” Das Tabu soll vor dem Rückfall schützen. Doch in einer Gesellschaft, in der Alkohol allgegenwärtig ist, gelingt es den wenigsten, eisern zu bleiben. Mehr als die Hälfte aller Ex-Trinker erleidet innerhalb von vier Jahren nach der Therapie einen Rückfall. Gerade in diesem Zusammenhang erweise sich das Abstinenz-Dogma als schädlich, betont Körkel: „Viele ehemals Abhängige meinen, nachdem sie etwa beim Betriebsfest dem ersten Glas nicht widerstehen konnten: Jetzt ist alles zu spät, jetzt kann ich weitersaufen.” Der klassische Fall einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Dabei zeigen Untersuchungen wie die der Forschergruppe um den Münchener Psychologen Heinrich Küfner, daß mehr als die Hälfte solcher „Ausrutscher” glimpflich verlaufen und nur ein bis drei Tage dauern. Die Wissenschaftler hatten rund 1400 ehemals Alkoholabhängige mehr als vier Jahre nach Therapie-Ende regelmäßig befragt. Um so erstaunlicher findet Körkel, „daß die meisten Therapeuten und Selbsthilfegruppen krampfhaft bemüht sind, vor dem wahrscheinlichsten Fall die Augen zu schließen: dem Rückfall”. Außerdem schrecke das totale Abstinenzgebot Kranke davon ab, überhaupt Hilfe zu suchen. Nach Auskunft der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren unterziehen sich von den rund 2,5 Millionen behandlungsbedürftigen Trinkern pro Jahr nur 1,4 Prozent einer stationären Therapie. Nicht erreicht werden zum einen sogenannte Problemtrinker, die zwar regelmäßig große Mengen Alkohol konsumieren, aber noch nicht körperlich abhängig sind und Angst haben, als Alkoholiker abgestempelt zu werden. Zum anderen jene sozial entwurzelten Trinker, für die „Trockenheit” ein unrealistisches Ziel ist. Ein Beispiel für diese Kategorie ist etwa der von der Nürnberger Heilsarmee betreute Alkoholiker, der – sobald er seine Sozialhilfe ausgezahlt bekam – die gesamte Summe in Bier umsetzte. Bis ein Sozialarbeiter den Mann überredete, sich anhand einer gemeinsam erstellten Einkaufsliste immer zuerst Lebensmittel zu kaufen. Körkel: „Dieser auf den ersten Blick vielleicht bescheidene Schritt zur Selbstkontrolle hilft, sein Leben zu retten.” Der Alkoholismusforscher plädiert für eine pragmatische Wende in der Suchttherapie. „Wenn es jemand schafft, statt täglich nur noch an drei Tagen in der Woche zu trinken, gilt er unter Abstinenz-Gesichtspunkten als gescheitert – dabei ist das schon ein Riesenerfolg.” Eine Sucht aufzugeben, sei ein langwieriger Prozeß. Jeder Raucher, der schon einmal vergeblich versucht habe, vom Nikotin loszukommen, wisse das. Niedrigschwellige Angebote, wie es sie für Abhängige illegaler Drogen bereits gibt, könnten gemeinsam mit präventiven Maßnahmen wie etwa einem Werbeverbot für Alkoholika dazu beitragen, das Problem des Alkoholismus zu mildern. In Deutschland sterben Jahr für Jahr 40000 Menschen am Suff, fast die Hälfte von ihnen an Leberzirrhose. Bei Gewaltdelikten und Verkehrsunfällen sind Betrunkene deutlich überrepräsentiert. Der jährliche, alkoholbedingte Gesamtschaden für die Volkswirtschaft liegt schätzungsweise zwischen 50 und 80 Milliarden Mark. Abstinenz sei ein vernünftiges Langzeitziel, dürfe aber nicht Voraussetzung für eine Behandlung sein, sagt Körkel. Auch deshalb, „weil die Mehrzahl der Abhängigen sich nichts sehnlicher wünscht, als normal trinken zu können wie andere Leute auch”. Auch wenn sich dieser Wunsch als unrealistisch erweise, sei es ein Kunstfehler, ihn zu ignorieren. Körkel: „Das ist etwa so, als wenn ein Therapeut bei der ersten Sitzung zu einem Patienten, der unter Klaustrophobie leidet, sagt: Ab sofort dürfen Sie keine Angst mehr vor dem Fahrstuhlfahren haben.” Klar ist: Es gibt keinen Königsweg aus der Sucht. Auch kontrolliertes Trinken stellt hohe Anforderungen an die persönliche Disziplin. Es gilt, ständig auf der Hut zu sein, sorgfältig Zeit, Ort und Umstände des Alkoholkonsums vorherzubestimmen und die Menge strikt zu begrenzen. So wird die selbst auferlegte Mäßigung für manchen zur Zumutung. Körkel berichtet von einer Lehrerin, die sich gemäß persönlichem Kontrollplan ab sechs Uhr abends eine Flasche Rotwein genehmigte – vor dieser Selbstbeschränkung hatte sie mehr als doppelt so viel getrunken. Nun kreisten ihre Gedanken den ganzen Tag lang um den magischen Zeitpunkt. Wenn er endlich gekommen war, stürzte sie den Wein hinunter, und es stellte sich eine quälende Leere ein. Nach einem halben Jahr gab sie das kräftezehrende Reglement auf – und lebte lieber ganz abstinent.

Jens Bergmann

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