Orient „Vortrefflichkeit und Schein. Der Wissende und der Unwissende ergötzt sich daran.” So schätzte schon Goethe die Erzählungen aus den tausendundeinen Nächten ein, und Philippe Boulanger hält sich bei seiner eigenwilligen Interpretation der indisch-arabischen Mythen- und Märchensammlung getreulich daran. Die Scheherezade, die der Direktor der französischen Zeitschrift Pour la Science ins literarische Leben rief, hat einen erstaunlichen Lernprozeß hinter sich. Zwar erinnern Personal und Lokalkolorit der Erzählerin noch immer an die vertrauten Geschichten – es wimmelt nur so von Wesiren, Dschinns, Räubern, Henkern, Fakiren, Prinzen und Prinzessinnen, auch die Prachtentfaltung ist eine wahrlich orientalische – aber der Kern der Episoden wirkt auf den ersten Blick befremdlich: Es geht um Paradoxa, mathematische Probleme, vertrackte Rätsel der Physik und der Geometrie, um die Evolution und um die Chaos- und Relativitätstheorie – die sich übrigens mittels eines fliegenden Teppichs wunderbar beweisen läßt. In den 51 Nächten und Geschichten, die das Buch umfaßt, kommt also spröder und schwer verdaulicher Stoff zum Vortrag, den die liebliche Scheherezade in märchenhafte und unterhaltsame Episoden verwandelt, nicht so weitschweifig umständlich wie das Original, sondern – der Materie angemessen – eher in lakonischer Kürze. Auf den Ausflügen in das Grenzgebiet zwischen Wissenschaft, Philosophie und bloßer Gedankenspielerei begegnet der Leser der gesamten naturwissenschaftlichen Prominenz des Okzidents: vom Mathematiker Euklid bis zu den Theoretikern der Gegenwart. Hans Schmidt
Philippe Boulanger 1001 NACHT Scheherezade erzählt Geschichten aus der Wissenschaft Birkhäuser Verlag Basel 1999 222 S., DM 29,80
Hans Schmidt / Philippe Boulanger