„Jerom starb am 13. Februar 1996, zehn Tage vor seinem vierzehnten Geburtstag. Er war erst im Teenageralter, aber desinteressiert, aufgedunsen, depressiv, ausgelaugt, anämisch und litt an Durchfall. Seit elf Jahren hatte er nicht mehr an der frischen Luft gespielt. Als dreißig Monate alter Säugling war er vorsätzlich mit dem HIV-SF2-Virus angesteckt worden. Mit vier Jahren war er mit LAV-1, einem weiteren HIV-Typ, infiziert worden. Einen Monat vor seinem fünften Geburtstag hatte man ihm NDK, eine dritte Art, verabreicht.”
So beginnt der Bericht des Juristen Steven Wise, Dozent an der Harvard Law School in Needham, über den Versuchsschimpansen Jerom, der als einer von elf Menschenaffen isoliert in einer fensterlosen Zelle aus Stahl und Beton im Chimpanzee Infectious Disease Building der Emory University in Atlanta gehalten wurde und starb. Wise ist Präsident des Center for the Expansion of Fundamental Rights in Boston, Massachusetts. Engagiert verficht er die Idee, die drei wichtigsten Menschenrechte in Zukunft auch auf die großen Menschenaffen auszudehnen: das unantastbare Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und auf freie persönliche Entfaltung.
Genau zehn Jahre ist es her, dass die Forderung aufkam, den Menschenaffen, den Schimpansen, Zwergschimpansen (Bonobos), Gorillas und Orang-Utans grundlegende Menschenrechte zu verleihen. Urheber sind die italienische Tierrechtlerin Paola Cavalieri und der australische Philosoph Peter Singer, heute Professor an der US-amerikanischen Princeton University.
Die erste Anregung, das Verhältnis zwischen Menschen und Menschenaffen zu überdenken, kam bereits in den achtziger Jahren. Damals hatten Untersuchungen der Molekularbiologen Charles Sibley und Jon Ahlquist Furore gemacht, wonach Orang-Utan und Mensch sich nur in etwa 3,6 Prozent ihrer Erbanlagen unterscheiden. Gorilla und Mensch weichen in etwa 2,3 Prozent voneinander ab. Die Differenz zu Schimpanse und Bonobo beträgt jeweils nur 1,6 Prozent. Für den US-amerikanischen Molekularbiologen Morris Goodman von der Wayne
State University in Detroit sind die Gemeinsamkeiten so groß, dass er vor einigen Monaten vorschlug: Die Gattung Homo, die bisher nur eine Art – den Menschen – beinhaltet, sollte erweitert werden: um Schimpansen und Bonobos.
Singer und Cavalieri veröffentlichten 1993 ihr Buch „ Menschenrechte für die Großen Menschenaffen”, das zugleich zum Manifest einer neu gegründeten Organisation wurde: The Great Ape Project. Ihre Sicht ist darin klar formuliert: Menschenaffen haben ein Sozialverhalten und Gefühle ähnlich wie der Mensch, und ihre Intelligenz steht der unseren kaum nach. Gleichwohl erhalten sie keinen vollen rechtlichen Schutz – für Singer und Cavalieri ein Skandal.
The Great Ape Project (GAP) ist heute in 16 Ländern vertreten, auch in Deutschland. Zu den prominentesten Mitstreitern gehören die Primatenforscherinnen Jane Goodall, Biruté Galdikas und Deborah Fouts sowie die Juristen Steve Ann Chambers und Steven Wise. Bereits in den ersten drei Jahren nach seiner Gründung hatte das GAP beachtliche Erfolge vorzuweisen. Neun Schimpansen wurden unter dem Druck einer Kampagne aus einem amerikanischen Tierversuchslabor entlassen. In Großbritannien beschäftigte sich eine Fernseh-Gerichtsshow zur besten Sendezeit im „Great Ape Trial”, mit der juristischen Frage, ob Menschenaffen Rechte erhalten sollten oder nicht. Die Jury der Sendung entschied sich mit einer Mehrheit von fünf zu eins für eine solche Gesetzesänderung.
Der deutsche Primatenforscher Volker Sommer, inzwischen Professor am Department of Anthropology des University College London, sympathisiert mit dem Projekt. In Büchern, ungezählten Fernsehauftritten und Interviews machte sich Sommer dafür stark, den Mythos von der Sonderstellung des Menschen zu widerlegen und Menschenaffen moralisch aufzuwerten. Überwältigend seien die Gemeinsamkeiten, klein dagegen die Unterschiede. Alle großen Selbstdefinitionen des Menschen hätten sich erledigt. Weder Intelligenz, Vernunft, Liebe oder der Gebrauch von Technik unterscheiden den Menschen grundsätzlich von seinen nächsten Verwandten. „Eitle Homozentriker freilich”, befürchtet Sommer, „ werden all das bestreiten oder einfach die Messlatte höher legen. Herauskommen wird, dass der Mensch als einziges Wesen die Formel von Coca-Cola kennt.”
Besonders überzeugend erscheinen den Vertretern des GAP in jüngster Zeit die Erfolge bei Sprachexperimenten mit großen Menschenaffen, etwa die der Entwicklungspsychologin Francine Patterson mit dem Gorillaweibchen Koko. Nach 25 Jahren intensiven Trainings beherrscht Koko mehr als 1000 Begriffe der amerikanischen Gebärdensprache und versteht rund 2000 englische Wörter. 1998 gab es den ersten Live-Chat mit Koko im Internet. Ihre Sätze sind zwischen drei und sechs Wörtern lang, schaffen Zeitbezüge und enthalten sogar Witze. Kokos fachgerecht getesteter IQ beträgt zwischen 70 und 95 Punkte – 100 Punkte bescheinigen Menschen eine normale Intelligenz.
Sprachfertigkeiten und Rechenkünste sind gemeinhin nicht das Kriterium für die Zugehörigkeit zur menschlichen Moralgemeinschaft. Geistig schwerstbehinderte Menschen oder Säuglinge, sagt Peter Singer, verfügen diesbezüglich kaum über nennenswerte Fertigkeiten. Dennoch genießen sie einen vollständigen moralischen Schutz, der Menschenaffen nahezu überall verwehrt ist.
Trotzdem benutzen die Vertreter des Great Ape Project auch die Intelligenzleistungen von Menschenaffen als Argument. Nicht nur die Gene, sondern ebenso grundlegende geistige Eigenschaften wie Selbstbewusstsein, Intelligenz, komplexe Kommunikationsformen und soziale Systeme verbänden den Menschen, der biologisch gesehen auch ein Menschenaffe ist, mit seinen nahen Verwandten zu einer moralischen Gemeinschaft. Ihr Einlasskriterium ist der Begriff der „Person”. Menschenaffen sollten ebenso wie Menschen als Personen wahrzunehmen sein. Daher wären Menschenaffen vor Tierversuchen zu bewahren, sie sollten nicht im Zoo oder Zirkus zur Schau gestellt werden und seien in ihren natürlichen Lebensräumen von der UNO zu schützen.
Seine größten Erfolge feierte das Projekt in Großbritannien, Neuseeland und dieses Jahr auch in den Niederlanden. Seit 1997 untersagt Großbritannien jeden Tierversuch mit großen Menschenaffen – ein Schritt, den Volker Sommer sehr begrüßt. Er verweist er auf ein Paradoxon, das es in Deutschland noch immer gibt: „Nichtmenschliche Primaten stehen uns hinreichend nahe, um in biomedizinischen Versuchen ausgebeutet werden zu können. Sie sind uns aber nicht nahe genug, um vor dem Tod im Versuchslabor geschützt zu sein.”
Der größte Erfolg der Tierrechtler kam im Oktober 1999. Unter starkem Einsatz des GAP gelang in Neuseeland eine Gesetzesänderung, die als „Tier-Fürsorgegesetz” allen „nicht humanen Hominiden” besonderen Schutz gewährt. Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans und Bonobos dürfen seither nur noch in Experimenten eingesetzt werden, wenn die Ergebnisse den Affen selbst und ihrer Spezies zugute kommen. In den Niederlanden wird zurzeit das Schimpansenlabor des Biomedical Primate Research Center (BPRC) in Rijswijk aufgelöst. Hier fristeten mehr als 100 Schimpansen ihr Dasein in winzigen fensterlosen Zellen. Sie wurden mit HIV und Hepatitis infiziert, ohne dass es dabei zu nennenswerten wissenschaftlichen Erkenntnissen für die menschliche Gesundheit kam. Am 24. April 2002 entschied das niederländische Parlament in großer Einmütigkeit, die Affen des BPRC freizulassen. 63 mit HIV, SIV oder Hepatitis infizierte Schimpansen werden nun in das nahezu fertig gestellte Affen-Tierheim „Stichting AAP” in der Nähe von Alicante in Spanien übersiedelt, damit sie dort ihren Lebensabend verbringen können. 42 nicht infizierte Schimpansen werden gegenwärtig an Zoos in Westeuropa verteilt.
Der Beginn eines großen Umdenkens? Vielleicht. Doch es gibt auch Einwände gegen die Forderungen. Ist es tatsächlich sinnvoll, von den „Rechten” der Menschenaffen auf körperliche Unversehrtheit, freie Entfaltung ihrer Person und dergleichen zu reden, ohne zugleich darüber nachzudenken, wie sie ihre damit einhergehenden „Pflichten” erfüllen sollen? Schon vor Jahren etwa fragte der Kölner Zoodirektor Gunther Nogge, wie die zur Menschengemeinschaft gezählten Menschenaffen in Zukunft eigentlich Steuern bezahlen oder ihren Militärdienst ableisten sollten. Frei von solcher Ironie stellt sich die Frage, was passieren würde, wenn ein Affe gegen Menschenrechte verstieße, die er zwar nicht selbst akzeptiert hätte, aber unter deren Schutz er stünde. Wie soll man „Krieg” unter Schimpansen, „ qualvollen Mord” und „Kannibalismus” unter Menschenaffen werten? Was macht man mit einem Affen, der einen Menschen verletzt oder gar tötet?
Geht es nach Peter Singer, so sollten Menschenaffen in solchen Fragen wie unmündige Menschen behandelt werden. Also keine Gefängnisstrafen für Affen. Wichtiger freilich, als sich über solche juristischen Fallstricke Gedanken zu machen, sei es, erst einmal dafür zu sorgen, dass es in Zukunft überhaupt noch Menschenaffen gibt.
Nach Angaben der Species Survival Commission der UNO-Artenschutz-Organisation Conservation Union werden in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren etwa ein Fünftel aller heute lebenden Primatenarten ausgestorben sein. So unterstützt das Great Ape Project Schutzprojekte für die großen Menschenaffen in ihren Heimatländern und engagiert sich gegen den „Mord” an Gorillas und Schimpansen als Jagdbeute, als so genanntes Bushmeat.
Zehn Jahre gibt es nun das Projekt für die Menschenrechte der Menschenaffen. Doch der kleine molekulargenetische Unterschied und seine großen Folgen stellt die Menschen noch immer auf eine Probe ihrer eigenen Menschlichkeit.
Menschen und Menschenaffen sind sich genetisch so ähnlich, dass Forscher Schimpansen und Menschen sogar als eine einzige Gattung betrachten.
In Großbritannien und Neuseeland hat sich die rechtliche Lage der großen Menschenaffen in den letzten Jahren gebessert.
Richard David Precht