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Lohnender Luxus

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Lohnender Luxus
Aus evolutionsbiologischer Perspektive erscheint die menschliche Religiosität als reine Verschwendung. Doch jetzt haben Soziobiologen Selektionsvorteile des Glaubens gefunden.

„Die Religion ist die größte Herausforderung für die Soziobiologie”, sagte einer ihrer Begründer, der Harvard-Professor Edward O. Wilson vor einigen Jahren. Inzwischen haben Soziobiologen und Evolutionspsychologen diese Herausforderung angenommen und Selektionsvorteile der menschlichen Religiosität identifiziert. Doch die Soziobiologie, also die biologische Erforschung des Sozialverhaltens, und überhaupt die Evolutionstheorie sind auch eine Herausforderung für die Religion – und in den USA inzwischen ein Grund für die Kreationisten, das Kriegsbeil auszugraben. Mit ihrer wörtlichen Bibel-Auslegung wollen sie nicht nur immer mehr Einfluss auf die Innen- und Außenpolitik nehmen, sondern sie versuchen auch mit juristischen und politischen Mitteln, die Wissenschaft zu diskreditieren. Stattdessen tragen sie ihre Vorstellungen vom „ intelligenten Design” der Natur in die Schulen, also einen durch keine Tatsachen gestützten, wissenschaftlich verbrämten Schöpfungsglauben (bild der wissenschaft 3/2006, „Und die Erde ist eine Scheibe”). Nach eher punktueller Kritik von vielen Seiten haben einige Wissenschaftler und Philosophen nun mit einem Gegenangriff begonnen. Während in Deutschland Religion und Wissenschaft noch weitgehend friedlich nebeneinander existieren, spitzt sich jenseits des Atlantiks die Kontroverse rapide zu.

Bereits 2004 verkündete der Amerikaner Sam Harris das Ende des Glaubens und verkaufte das Buch „The End of Faith” bislang über 400 000-mal. Vor ein paar Monaten legte der Neurobiologe, der aus Angst vor Anschlägen seine Universität nicht nennt, seinen „ Letter to a Christian Nation” nach. Er warnt darin vor Politikern, hinter denen Millionen von Bibel-Fundamentalisten stünden, die das nahe Weltende erwarteten und somit keine Anstrengungen für eine ökologisch, ökonomisch und geopolitisch bessere Zukunft machten. Vor allem kritisiert er die Politik des US-Präsidenten George Bush, von dem sogar der Horror-Bestsellerautor Stephen King kürzlich sagte: „Der kindische Glaube an seine Gottgesandtheit hat mich wirklich das Fürchten gelehrt.”

Ebenso besorgt, aber weniger polemisch ist das Buch „Breaking the Spell” von Daniel Dennett. Der renommierte Philosoph und Evolutionstheoretiker von der Tufts University in Medford, Massachusetts, besteht darin vor allem darauf, die Richtlinien der Rationalität und Erkenntnistheorie einzuhalten, wenn Glauben mehr sein soll als Privatsache: „Welche Religion man auch hat, es gibt stets mehr Menschen in der Welt, die diese Religion nicht teilen als solche, die sie teilen. Somit ist es nötig zu erklären, warum so viele Leute sich irren – und wie jene, die angeblich die richtige Religion kennen, wenn es sie denn gibt, dies herausgefunden haben.”

Richard Dawkins setzt noch eins drauf: „Wir sind alle Atheisten bezogen auf die meisten Götter, an die die Menschheit jemals geglaubt hat. Einige von uns gehen lediglich einen Gott weiter.” Der Professor an der Oxford University, einer der bedeutendsten Evolutionsbiologen der Gegenwart, hat im Oktober mit seinem Buch „The God Delusion” einen weiteren Generalangriff gestartet. Die Religion vergleicht er mit einem mentalen Virus, und die religiöse Erziehung kritisiert er als eine Art geistige Vergewaltigung Unschuldiger: „Darf Kindern manifester Unsinn gelehrt werden?” Im November trafen sich diese und weitere religionskritische Wissenschaftler und Philosophen zur „Beyond Belief”-Konferenz am Salk Institute im kalifornischen La Jolla, und der „Neue Atheismus” – wie das US-amerikanische Magazin „ Wired” titelte – erreichte seinen Höhepunkt. Auch die Magazine „ Time” und „Newsweek” brachten das Thema auf ihren Titelseiten. In Deutschland, wo noch keines der Bücher übersetzt vorliegt, war das Echo bislang eher verhalten.

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Freilich tun sich die Wissenschaftler und Philosophen mit ihrem Gegenangriff schwer – und erkennen das durch neue Forschungen auch selbst. Denn es ist kein Zufall, dass weltweit die meisten Menschen heute wie zu allen Zeiten religiös sind. Insofern ist sogar die Kritik an der Evolutionstheorie eine Art Evolutionsprodukt. Religiosität scheint sich, so zeigen die neuen Überlegungen, biologisch zu lohnen. Freilich ist Nützlichkeit nicht gleich Wahrheit, und so ist die Frage, warum Menschen an Gott glauben, eine ganz andere Frage als die, ob Gott existiert. Religiosität ist zunächst eine Sache des subjektiven Fürwahrhaltens, nicht der Psychologie, Neurowissenschaft, Genetik oder Evolutionsbiologie. Gene und Gehirnmerkmale können Menschen zum Glauben prädisponieren. Doch dies geschieht immer auch im Kontext der individuellen Biografie und des soziokulturellen Umfelds. Und insofern religiöse oder theologische Aussagen zu Übernatürlichem nicht objektiv prüfbar sind, ist ihr Wahrheitsgehalt wissenschaftlich unzugänglich. In dieser Hinsicht sind die evolutions- und neurobiologischen Untersuchungen weltanschaulich neutral.

Umso spannender sind die neuen Überlegungen der Soziobiologen jenseits der weltanschaulichen Kontroversen. Das Problem für Evolutionsforscher ist, dass die religiösen Aktivitäten der Menschen – fürs Lernen und Lehren, für die Rituale, Gottesdienste, den Bau von Tempeln, Kirchen und so weiter – oft extrem aufwendig sind. Die zeitlichen und materiellen Ressourcen dafür gehen unweigerlich anderen Aktivitäten ab, etwa dem Nahrungserwerb oder dem Bau von Unterkünften, der Partnersuche oder der Nachwuchspflege. Daher liegt es nahe, nach dem Nutzen religiösen Verhaltens zu fragen, und zwar nicht nur in kultureller, sondern auch in evolutionsbiologischer Hinsicht. Hätte Religiosität nicht Vorteile, wäre sie nicht so weit verbreitet und effizienteren Lebensformen unterlegen – nichtreligiöse Individuen und Gruppen hätten sich, wenn Religiosität überhaupt entstanden wäre, im Lauf der Jahrtausende gegenüber dem „überflüssigen Luxus” durchsetzen müssen.

Doch Religiosität scheint sogar den Fortpflanzungserfolg zu erhöhen (siehe Kasten „Religiöse Reproduktionskraft”). Sie spielt in allen bekannten Kulturen eine Rolle und wird von den meisten Menschen mehr oder weniger intensiv praktiziert. Überall und zu allen Zeiten in der Menschheitsgeschichte gab und gibt es Religionen – in allen Kulturen. Von den heute 6,6 Milliarden Menschen sind soziologischen Studien zufolge über 90 Prozent religiös und investieren viel Zeit und Ressourcen in ihren Glauben. Dies gilt jetzt auch wieder für die ehemalige Sowjetunion nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Wann der „ Homo religiosus” damit begonnen hat, lässt sich nur schwer rekonstruieren – sehr wahrscheinlich aber bereits in prähistorischer Zeit, wie neolithische Tempel in vielen Teilen der Welt vermuten lassen. Schon vorher dürften religiöse Praktiken eine wichtige Rolle im Sozialleben gespielt haben – noch sichtbar in Höhlenmalereien und bis zu 35 000 Jahre alten kunstvollen Figuren zum Beispiel aus Elfenbein. Sie gingen vermutlich mit der Entwicklung des symbolischen Denkens spätestens vor einigen Zehntausend Jahren einher, mit der die komplexen Sprach- und Kulturfähigkeiten entstanden. Möglicherweise existierten sie zuvor schon bei Bestattungsriten, Schädelkulten und dem rituellen Verzehren des Fleischs von Verstorbenen. All das hatte, wie Funde zeigen, bereits der Neandertaler und vielleicht noch früher der Homo erectus praktiziert. Religiosität gilt daher sogar oft als typisch menschlich – „der Mensch als betendes Tier”, wie der britische Biologe Alister Hardy es nennt.

Bei der evolutionsbiologischen Erforschung der Religiosität ist es zunächst unerheblich, ob Gott eine Illusion ist, wie der Evolutionstheoretiker Franz Wuketits von der Universität Wien meint, oder der Mensch ein „Säugetier von Gottes Gnaden”, wie der Theologe Ulrich Lüke von der Universität Aachen in seinem gerade unter diesem Titel erschienenen Buch zu zeigen versucht. „Es könnte sein, dass Gott in jedem Menschen eine unsterbliche Seele einpflanzt, die nach Gelegenheiten dürstet, ihn zu verehren”, schrieb Daniel Dennett. „Das würde die menschlichen Investitionen an Gütern, Zeit und Energie erklären. Der einzig ehrliche Weg, diese Ansicht zu verteidigen, ist es, alternative Hypothesen über die Langlebigkeit und Popularität der Religion fair in Betracht zu ziehen und sie auszuschließen, indem man zeigt, dass sie die beobachteten Phänomene nicht begreiflich machen können.” So oder so kommt man also um empirische Forschung nicht herum. Und die ist auch notwendig, um mutmaßliche evolutionäre Selektionsvorteile zu erkennen und konkurrierende Hypothesen bewerten zu können.

Für einen evolutionären Selektionsvorteil – neben den vielen kulturellen Aspekten – spricht auch, dass Religiosität oder, genauer, Spiritualität eine überraschend starke genetische Komponente zu haben scheint. Zwar ist Religiosität im engeren Sinn nicht angeboren, sondern im sozialen Umfeld erlernt: Welcher Religion man angehört, hängt hauptsächlich vom Glauben der Eltern oder anderen nahestehenden Personen ab. Dagegen scheint Spiritualität – Selbst-Vergessenheit, Neigung zur Mystik und die Identifikation mit einem größeren Ganzen –, die oft, wenn auch nicht immer, mit Religiosität einhergeht, eine starke genetische Komponente von fast 50 Prozent zu besitzen. Das ergaben Studien mit Zwillingen. Inzwischen haben Molekulargenetiker damit begonnen, nach diesen Genen zu fahnden (bild der wissenschaft 7/2005, „Das Gottes-Gen”). Selbstverständlich gibt es keine Katholizismus- oder Hinduismus-Gene. Aber letztlich haben alle neuronalen und somit auch geistigen Leistungen einen genetischen Rahmen. Natur und Kultur, Gene und Lernvorgänge sind keine sich ausschließenden Gegensätze, sondern wechselwirkende Partner. Auch müssen Religiosität und Spiritualität ursprünglich keine direkten Selektionsvorteile besessen haben. Plausibler ist die Annahme, dass sie als Nebenprodukt von psychischen Funktionen und deren zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen entstanden sind, die andere – profane – Selektionsvorteile hatten.

Richard Dawkins vergleicht das mit dem Flug von Motten in Kerzenflammen, der kein „Selbstmord” ist, sondern eine Konsequenz einer sonst nützlichen Orientierung an fernen Lichtquellen wie dem Mond: Treffen Lichtstrahlen nicht wie von diesem parallel ins Mottenauge, sondern von nahen Quellen aufgefächert, verrechnet die Motte sie falsch und gerät auf einen tödlichen Spiralkurs. Analog sind religiöse Fehlverrechnungen ein Nebeneffekt einer Regel, die für Kinder überlebenswichtig ist: „Glaube, ohne zu hinterfragen, was immer erwachsene Bezugspersonen dir sagen”, spekuliert Dawkins. „Religionsführer sind sich der Verletzbarkeit der kindlichen Gehirne voll bewusst und der Wichtigkeit, sie möglichst früh zu indoktrinieren. Unsere psychischen Dispositionen machen uns für Religion anfällig wie der Lichtkompass Motten für ihren Todesflug.”

Eine andere „Nebenprodukt”-Hypothese stammt von dem Soziobiologen Eckart Voland und dem Theologen Caspar Söling von der Universität Gießen. Sie argumentieren dafür, dass Religiosität aus der Vernetzung und Interaktion von vier universellen, genetisch angelegten kognitiven Domänen der menschlichen Psyche entstanden ist, die zunächst ihre eigene Selektions- und Anpassungsgeschichte durchlaufen haben und bestimmten Hauptkomponenten nahezu aller Religionen entsprechen:

• Mystik: Sie schafft Weltbilder zur Orientierung und als Entscheidungshilfen in einer unübersichtlichen, zufälligen Wirklichkeit.

• Ethik: Sie erzeugt Sozialkompetenz, um Kooperationen und wechselseitigen Altruismus zu ermöglichen.

• Rituale: Sie verhindern die Ausbeutung von wechselseitigem Altruismus (siehe nächster Beitrag „Schutz vor Schmarotzern” ).

• Mythen: Sie erzeugen die soziale Identität und tragen dazu bei, die Mitglieder einer Gruppe von anderen abzugrenzen.

Voland und Söling zufolge hat die Verbindung dieser vier kognitiven Instanzen die Flexibilität des menschlichen Geistes stark erhöht und die menschlichen Kulturleistungen erst ermöglicht. „Religiosität ist eine biologische Angepasstheit”, sagt Voland. „Sie basiert bis heute auf den vier Domänen, auch wenn die spezifischen religiösen Inhalte ein Produkt der Kulturgeschichte sind.”

Evolutionäre Selektionsvorteile können für Individuen gelten oder aber auch für ganze Gruppen. Für Individuen diskutieren Forscher vor allem die folgenden Hypothesen:

Religion dient als Trost und Schutz (etwa hinsichtlich des Todes, der Weltangst, der Ungerechtigkeit), als vermeintlicher Garant von Sinn, Ordnung und Erklärbarkeit des Lebens und der Welt (im Gegensatz zum blanken Zufall oder blinden Schicksal) – vor allem zu einer Zeit, in der es noch keine richtigen wissenschaftlichen und philosophischen Erklärungsversuche gab, die ja zudem auch heute noch vielen Menschen unverständlich oder unbekannt sind. Religion bedeutet eine Entlastung und Ablenkung von der oftmals unerquicklichen Wirklichkeit. „Stress, Unglück, Ungerechtigkeit können erträglich gemacht werden, wenn man sie sich zu einem hohen Ziele gehörend denkt. Die Vorstellung von einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits kann also als eine biologisch wirksame Anpassung eines intelligenten Lebewesens an die Wirklichkeit seines Lebens verstanden werden”, ist der Biologe Wolfgang Wickler überzeugt.

Ferner wurde Religiosität als Projektion und Kompensation interpretiert. Die Defizite und Vergeblichkeiten des menschlichen Lebens und Seins sollen durch eine metaphysische Erhöhung ausgeglichen, die Zwecklosigkeit und Absurdität durch eine höhere Instanz vermieden oder wettgemacht und das unerquickliche Diesseits mit den Verfehlungen und der Ohnmacht des Mängelwesens Mensch durch ein glorioses Jenseits entlastet und überwunden werden. Das haben die Philosophen Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche schon im 19. Jahrhundert vermutet. „Leiden war’s und Unvermögen, das schuf alle Hinterwelten”, schrieb Nietzsche.

Religiosität wurde auch als eine Art von psychischem Placebo charakterisiert – was ebenfalls wieder im Kontext einer Zeit betrachtet werden muss, in der es nur rudimentäre medizinische Kenntnisse gab. Tatsächlich scheinen Gläubige noch heute häufig psychisch wie physisch gesünder, langlebiger, glücklicher und kinderreicher zu sein. Auch gibt es unter ihnen weniger Drogenkonsum, Alkoholismus, Depressionen, Scheidungen und Selbstmord. „Ein Mangel an religiösem Engagement wirkt sich auf die Sterblichkeit genauso aus, wie wenn man vierzig Jahre lang täglich eine Schachtel Zigaretten raucht”, bilanzierte Harold Koenig vom Duke University Medical Center in Durham, North Carolina, sogar in einer Analyse mehrerer Hundert Studien. Allerdings ist bei dieser Interpretation Skepsis angebracht. Denn einerseits muss man aufpassen, welche Vergleichsgruppen man jeweils analysiert – bestimmte Risikogruppen sind unter religiösen Menschen seltener vertreten und verzerren somit die Statistik –, und so gibt es auch gegenteilige Befunde. Andererseits kann Religiosität durchaus gesundheitsschädliche Wirkungen haben – etwa durch rituelle Verstümmelungen. Ein weiteres Problem ist der psychische Druck und Stress – der Freiburger Psychotherapeut Tilman Moser spricht in seinem gleichnamigen Buch sogar von „Gottesvergiftung”.

Evolutionäre Selektionsvorteile für soziale Gruppen bestehen hauptsächlich darin, das Verhalten der Mitglieder zu beeinflussen:

• Machthaber können damit ihre Macht gewinnen, rechtfertigen und erhalten. Moralische Vorschriften lassen sich begründen und durchsetzen: Fast jede Religion verfügt über ein reiches Spektrum von Geboten und Verboten.

• Menschen können motiviert und manipuliert werden – bis hin zu „heiligen Kriegen” und Märtyrertum. Gruppen lassen sich nach innen stabilisieren und nach außen abgrenzen.

• Kooperativität und Altruismus werden gefördert und zugleich gegen „Schwarzfahrer” abgesichert.

• Religion kann das Leben in den Gruppen, ja in großen Gesellschaften sicherer, harmonischer und effizienter machen.

Das bedeutet nicht, dass davon alle gleich stark profitieren – oft haben manche Individuen ungleich größere Vorteile. „ Evolutionsbiologisch betrachtet ist Gott ein imaginäres Alphamännchen, eine Primatenhirn-Konstruktion, die einigen Mitgliedern unserer Spezies deutliche Vorteile im Kampf um die Ressourcen verschaffte”, sagt der Trierer Philosoph Michael Schmidt-Salomon. „Das Prinzip ist einfach: Wer es versteht, den Eindruck zu erwecken, einen besonders guten Draht zum jenseitigen Silberrücken zu besitzen, der kann allein dadurch seine Stellung innerhalb der menschlichen Säugetierhierarchie aufbessern. Trotz vieler Jahrtausende Zivilisation ist die Wirksamkeit dieser Form von Machterschleichung relativ stabil geblieben.”

Aber auch ganze Gruppen können im Wettstreit mit anderen Gruppen einen Gewinn haben – und damit indirekt auch wieder die Nachkommenzahl ihrer Individuen erhöhen. Das setzt freilich ein gewisses Maß von „Gruppenselektion” voraus. So fördern Religionen Aggression gegen Gruppenfremde (als Motivation, Vorwand oder Rechtfertigung) und ermöglichen deren Unterdrückung oder Vernichtung. In seinem Buch „Darwin’s Cathedral” versucht der Anthropologe David Sloan Wilson von der Binghamton University, New York, Religiosität als wesentliches Gruppenmerkmal und evolutionäre Treibkraft auszumachen. Inwiefern es sich dabei um „ echte” Gruppenselektion im Gegensatz zur Verwandtenselektion und wechselseitigem Altruismus handelt, wird noch kontrovers diskutiert. Unstrittig ist jedenfalls, dass Gruppen gegenüber Einzelgängern Vorteile haben – etwa bei der gemeinsamen Großwildjagd, Verteidigung, Nahrungs- und Arbeitsteilung, bei Raubzügen und Handel. Damit sind soziale Normen notwendig (was sich ansatzweise übrigens auch bei Menschenaffen beobachten lässt): Kooperation und Fairness werden zur Pflicht, Egoisten werden gemaßregelt. Der Verhaltensbiologe Wolfgang Wickler charakterisierte sogar sechs der Zehn Gebote als soziobiologisch vorteilhafte Anweisungen.

Ob diese Erklärungsansätze für Religiosität im Rahmen der natürlichen Selektion hinreichen, ist freilich noch nicht erwiesen. Aber schon 1871 hatte Charles Darwin erkannt, dass es eine weitere Form der Selektion gibt: die sexuelle. Denn die Reproduktionsmöglichkeiten und also auch die entsprechenden Interessen der Geschlechter sind verschieden. So können bei den Primaten und vielen anderen Tieren männliche Individuen im Prinzip viel mehr Nachkommen haben als weibliche. Für Letztere lohnt es sich deshalb, wählerischer zu sein.

„Female Choice” könnte durchaus die Religiosität gefördert haben. So spekulierte der Soziobiologe Volker Sommer vom University College London, dass Frauen einst Männer mithilfe von Religion manipulierten, um für sich und ihre Kinder Fleisch zu bekommen und Geschechterkonkurrenz zu verringern. Und der Anthropologe Terrence Deacon von der Harvard University glaubt, dass Heiratsrituale die Treue verstärkten. Das könnte bei längeren Abwesenheiten der Männer wichtig gewesen sein, die sonst womöglich nicht zu Großwildjagden oder Erkundungen aufgebrochen wären, um Nebenbuhlern keine Chance zu geben. Welche gravierenden Folgen solche Konflikte haben können, zeigt sich noch in jüngster Zeit bei den südamerikanischen Yanomamo, von denen ein Drittel der Männer bei tödlichen Auseinandersetzungen sterben, besonders bei Rachefeldzügen wegen Frauen.

Fest steht, dass die weibliche Wahl weitreichende Konsequenzen haben kann. Während die natürliche Selektion bei Tieren die Unterschiede zwischen den Geschlechtern tendenziell vermindert (etwa auf unscheinbare Tarnfarben hin), fördert die sexuelle Selektion solche Unterschiede. Das führte zu Extremen wie dem Geweih des Riesenhirschs oder dem gewaltigen Pfauenschwanz. Solche sekundären Geschlechtsmerkmale sind vor dem Hintergrund der natürlichen Selektion nachteilig – etwa aufgrund der investierten Energie, der beschwerlichen Fortbewegung oder des größeren Risikos, eine leichte Beute für Raubtiere zu sein. Dennoch haben sie sich durchgesetzt, weil sie durch die sexuelle Selektion – das heißt die Präferenz der Weibchen – begünstigt wurden. Tatsächlich taugen diese Merkmale als so genannte Fitness-Indikatoren: Nur die kräftigeren, gesünderen Individuen können sich einen besonders schönen Pfauenschwanz und dergleichen leisten. Der israelische Zoologe Amotz Zahavi hat dafür den Begriff des „Handicap-Prinzips” geprägt. Die Weibchen schätzen aus der Güte des Handicaps – etwa der Schönheit des Pfauenschwanzes – gleichsam die Qualität der Gene ihres potenziellen Paarungspartners ein. Entscheidend dabei ist, dass es sich wirklich um ein Handicap handelt – ein leicht zu fälschendes, also „preiswertes” Merkmal wäre kein zuverlässiger Fitness-Indikator.

Nicht nur körperliche Merkmale, sondern auch Verhaltensweisen oder psychische Eigenschaften unterliegen, sofern sie genetisch mitbedingt sind, der sexuellen Selektion. Ein Beispiel ist der monatelange Paarungsplatz-Bau bei männlichen Laubenvögeln. Der Evolutionspsychologe Geoffrey Miller von der University of New Mexico in Albuquerque hat argumentiert, dass die Entwicklung der menschlichen Intelligenz und Kreativität, einschließlich der künstlerischen Betätigungen, durch sexuelle Selektion entscheidend vorangetrieben wurde (bild der wissenschaft 8/2002, „ Der Intelligenzsprung”). Miller spricht sogar vom „schmückenden Geist” und interpretiert ihn als „Werkzeug zur Partnerwerbung” .

Gerade in der menschlichen Spezies lohnt es sich für die Frauen, sehr wählerisch zu sein. Denn bedingt durch die Entwicklung des großen Gehirns dauern Schwangerschaft und besonders Kindheit viel länger als bei anderen Primaten, weshalb Frauen viel stärker auf männliche Unterstützung angewiesen sind. Wenn nun, so argumentierte unter anderem der Evolutionspsychologe Harald A. Euler von der Universität Kassel, Religiosität keine robusten natürlichen Selektionsvorteile bietet, dann könnte sie immer noch durch die sexuelle Selektion begünstigt worden sein. Denn der religiöse Aufwand lässt sich auch als Fitness-Indikator deuten – als Klasse schwer fälschbarer Signale: die körperlichen Malträtierungen; die zeitaufwendigen Gebete und Rituale mit ihren „Entschleunigern” wie Rosenkranzbeten und beschwerlichen Prozessionen; die oft lebenslangen Schriftstudien oder Meditationen; der Verzicht auf Konsum oder, wie in Fastenritualen, Nahrung; die hohen Kosten für Tempel, Gewänder, sakrale Kunst und so weiter.

Tatsächlich praktizieren Männer ihre religiösen Rituale häufiger öffentlich als Frauen, sind also sichtbarer dabei. Auch wurden die meisten Religionen, Sekten und so weiter von Männern gegründet. Die persönliche Wertschätzung von Religiosität, Spiritualität, Esoterik und dergleichen ist hingegen bei Frauen stärker ausgeprägt (siehe Tabelle „Männer sind skeptischer”). Die sprichwörtliche Gretchenfrage in Johann Wolfgang Goethes Drama „ Faust” („Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?”) könnte also durchaus eine tiefere biologische Wahrheit zum Ausdruck bringen: die Prüfung eines potenziellen Partners. Wenn der den Anschein erweckt, mehr in den Nachwuchs zu investieren, treuer und zuverlässiger zu sein, „lohnt” sich die Prüfung. Wie Goethes Mephistopheles ja trefflich reimt: „Die Mädels sind doch sehr interessiert, ob einer fromm und schlicht nach altem Brauch. Sie denken: Duckt er da, folgt er uns eben auch.” ■

Rüdiger Vaas

Ohne Titel

„Religion” ist nicht streng definierbar. Es gibt aber einige Merkmale, die die meisten der mehreren Tausend bekannten Religionen und ihre vielen Varianten besitzen:

• Transzendenz: der Glaube an außer-/übernatürliche Mächte.

• Ultimative Bezogenheit: das Gefühl der Verbundenheit, Abhängigkeit, Verpflichtung.

• Höchste Bestimmung: das Gefühl der Sinngebung, sowohl für das Individuum als auch für die Gemeinschaft.

• Mystik: die Erfahrung des „Heiligen” bis hin zum Erlebnis von Einheitsgefühlen mit dieser Macht.

• Mythos: die Welterklärung und -legitimation bis hin zur Annahme eines unheilen Zustands in der Gegenwart und eines Heils- und Erlösungsversprechens.

• Moral: transzendente Wertordnung aus Geboten und Verboten.

• Ritus: symbolisch aufgeladene Handlungen oder Gegenstände beispielsweise zur Abweisung des Bösen, zur Reinigung oder für bestimmte Lebensphasen und -übergänge.

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Die ersten Worte des biblischen Gottes an die Menschen – und somit das Erste aller 613 Gebote nach jüdischer Zählung – lautet „ Seid fruchtbar und mehret euch” (1. Mose 1, 28, und nochmals in der Noah-Geschichte: 1. Mose 9, 1). Auch der Koran fordert seine Gläubigen auf: „Verheiratet die Ledigen!” (Sure 24, 32). „ Religion überlebt, weil sie Kinder zeugt, nicht weil sie wahr ist” , hat das der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek kommentiert. Diese biologische Funktionalität konnten Religionswissenschaftler um Michael Blume von der Universität Heidelberg mit demographischen Analysen nun untermauern. Ihre Auswertung der deutschen ALLBUS-Daten („Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften”) aus dem Jahr 2002 ergab eine deutliche Korrelation zwischen der durchschnittlichen Kinderzahl der befragten 35- bis 45-Jährigen und ihrer religiösen Selbsteinschätzung, quantifizierbar über die Häufigkeit ihrer Gebete (siehe Grafik). „Auffällig ist zum einen die steigende Kinderzahl, aber auch der Umstand, dass jene Befragten etwas aus dem Trend fallen, deren Gebetshäufigkeit nicht den üblichen Rhythmen von Religionsgemeinschaften entspricht”, sagt Blume und meint damit Jahresfeiertage und wöchentliche sowie tägliche Gebetszeiten. „Wir haben auch andere Faktoren überprüft, etwa Bildung und Einkommen”, so Blume im Dezember auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Iserlohn. „Der Effekt bleibt bestehen und verstärkt sich sogar tendenziell noch. So gaben nur 21,5 Prozent aller ALLBUS-Befragten mit Hoch- und Fachhochschulreife an, sehr religiös zu sein – auf diese entfielen aber 27,1 Prozent aller Kinder dieser Bildungsschicht. Und gerade in den höheren Einkommensschichten sind es signifikant häufiger die religiösen Paare, die zugunsten von Kindern mindestens zeitweise auf Einkommen und Karriere – meist der Mütter – verzichten.”

Genauere Einblicke gewährt die Schweizer Volkszählung des Jahres 2000. 95,67 Prozent der damals 7 228 010 Einwohner gaben ihre Religionszugehörigkeit an. Ihre durchschnittliche Geburtenzahl unterschied sich erheblich. Mit 2,79 und 2,44 Lebendgeburten pro Frau führten Hindus und Muslime die Tabelle an, gefolgt von der Jüdischen Glaubensgemeinschaft (2,06) und diversen evangelikalen Freikirchen. Der schweizerische Gesamtdurchschnitt betrug 1,43, und die Geburtenzahl der explizit Nichtreligiösen lag mit 1,11 an letzter Stelle der 18 erfassten Kategorien. Auch der ALLBUS-Trend bestätigte sich: „Eine höhere Bildung führt zwar generell zu sinkender Reproduktivität und abnehmender konfessioneller Identifikation”, stellte Blume fest. „ Aber jene Minderheiten gebildeter Personen, die ihr Leben weiterhin oder entschieden neu religiös systematisieren, erreichen innerhalb ihrer Bildungsschicht gegen den Trend im Durchschnitt deutlich höhere Kinderzahlen.” Auch zeigte sich, dass in allen nicht mehrheitlich von Zuwanderung geprägten religiösen Gemeinschaften Frauen stärker vertreten sind als Männer (51,0 Prozent bei den Juden bis 57,4 Prozent bei den Zeugen Jehovas). Männer dominieren dagegen mit einem Anteil von 54,1 Prozent bei den Konfessionslosen. „Und genau in dieser Kategorie finden sich die höchsten Anteile an eheähnlichen Partnerschaften statt rechtsverbindlicher Ehen, der geringste Anteil an Paaren mit Kindern, der höchste Anteil an Alleinlebenden und trotz des geringsten Frauenanteils und der geringsten Kinderzahl der höchste Anteil an – meist weiblichen – Alleinerziehenden”, fasst Blume zusammen. Evolutionsbiologisch betrachtet erweist sich die religiöse Ausrichtung der Frauen damit als erfolgreich – ein starkes Argument für die Deutung von Religiosität als sexuellem Selektionsfaktor.

Je religiöser Menschen in Deutschland sind, desto mehr Kinder haben sie statistisch gesehen. Durchschnittlich 1,44 Kinder haben die Befragten, die sich als nicht religiös bezeichnen, und 1,90 Kinder jene, die sich für sehr religiös halten. Noch deutlicher wird der Zusammenhang bei der religiösen Praxis – hier dargestellt durch die Häufigkeit des Betens.

Ohne Titel

• Die meisten Menschen sind religiös, obwohl das oft mit großem Aufwand verbunden ist.

• Trotzdem scheint es sich biologisch zu „lohnen” – als Mittel gegen Schicksalsschläge, zur Beeinflussung des Verhaltens von Gruppenmitgliedern und für die Partnerwahl.

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Gläubige Generationen Hindus sind besonders fortpflanzungsfreudig. Im Bild ein Religionsfest in Jejuri, Westindien.

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der glaube an parapsychische und spirituelle Phänomene (1 = starker Unglaube, 5 = starker Glaube) ist vom Geschlecht abhängig. Frauen sind stets „gläubiger” – außer, wenn es um UFOs und Außerirdische geht. Befragt wurden in dieser Studie allerdings nur Studentinnen und Studenten.

Phänomen Männer Frauen

Gedankenübertragung 2,47 3,05

Wahrsagerei 1,71 2,17

Telekinese 1,84 1,97

UFOs 2,18 1,86

Leben nach dem Tod 2,77 3,31

Hellsehen 2,07 2,45

Astrologie 2,00 2,52

Kontakt mit Verstorbenen 1,67 1,75

Esoterische Lehren 2,08 2,40

Wiedergeburt 2,30 2,62

Wirkung von Gebet 2,43 3,07

Zeichendeutung 1,80 2,30

Amulette 1,78 2,51

Wunder 2,36 2,91

Erdstrahlen, Wünschelruten 2,66 2,77

Außerirdische Wesen 3,05 2,24

Beeinflussung durch Mondphasen 3,32 3,63

Biorhythmen 2,95 3,40

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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au|ßer|mit|tig  〈Adj.; Tech.〉 ausmittig, exzentrisch

Ser|val  〈[–va:l] m. 1 od. m. 6; Zool.〉 hochbeinige Raubkatze, in Buschsteppen u. Felsgebieten Afrikas: Leptailurus serval [<frz. <port. cerval … mehr

De|büt|al|bum  〈[–by–] n.; –s, –al|ben; Mus.〉 erstes Sammelalbum eines Musikers, Sängers od. einer Band

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