Ob Blutdrucksenker, Schmerzmittel oder Schlaftabletten: Ärzte und Patienten können aus einer unüberschaubaren Fülle von Arzneimitteln wählen – auf dem Pharmamarkt herrscht Überangebot. Andererseits: Menschen, die an sehr seltenen Krankheiten erkrankt sind, finden oft keine medikamentöse Hilfe. Denn die Forschung nach wirksamen Arzneien lohnt sich nicht.
Nur rund 100 Kinder beispielsweise leiden in ganz Deutschland an “nephropatischer Cystinose”. Bei den Erkrankten lagert sich die Aminosäure Cystin in bestimmten Zell-organellen – den Lysosomen – ab.
Die Folgen sind Minderwuchs, Veränderungen an den Muskeln und an der Netzhaut des Auges. Zwischen dem sechsten und dem zwölften Lebensjahr versagen dann häufig die Nieren – die Transplantation eines Spenderorgans wird notwendig.
Erst seit kurzem ist in Deutschland ein europaweit zugelassenes Medikament auf dem Markt, das die Folgen der nephropatischen Cystinose mildert: Es normalisiert das Wachstum und kann eine Nierentransplantation mindestens hinauszögern. Hersteller ist das erste Unternehmen in Deutschland, das sich auf “Orphan Drugs” spezialisiert hat – Arzneimittel für Patienten mit seltenen Erkrankungen. Eberhard Kroll, Geschäftsführer der Orphan Europe (Germany) mit Sitz in Dietzenbach, sieht hier eine Marktlücke, denn “für die etablierten Pharmaunternehmen sind Entwicklung und Vermarktung dieser Medikamente wirtschaftlich völlig uninteressant”.
Zur Zeit kostet die Entwicklung eines neuen Medikamentes weltweit im Durchschnitt mindestens 500 Millionen Mark. Fast immer droht ein Verlustgeschäft, wenn nicht eine Mindestzahl von Patienten das Produkt benötigt. In den USA gibt es deshalb seit 1983 ein Gesetz, das Unternehmen steuerliche Vorteile, Beratung durch Fachleute der Zulassungsbehörde und Projektfördermittel einräumt, wenn sie an Arzneimitteln für seltene Krankheiten forschen.
In Deutschland existiert kein solcher staatlicher Anreiz. Trotzdem ist Eberhard Kroll überzeugt, daß Orphan Europe (Germany) mit seinen 17 Mitarbeitern im freien Markt überleben kann. Er verweist darauf, daß die Zulassung von Orphan Drugs weniger aufwendig ist als die anderer Medikamente: Große klinische Studien mit vielen Patienten sind nicht möglich – und daher von den Behörden auch nicht gefordert. Außerdem sind Außendienstmitarbeiter und aufwendige Werbekampagnen über-flüssig, weil es meist kein Konkurrenzprodukt gibt und nur wenige spezialisierte Ärzte informiert werden müssen.
Orphan Europe (Germany) entwickelt Produkte zur Marktreife, gibt klinische Studien in Auftrag, kümmert sich um Zulassung, Vertrieb und Marketing – aber das Unternehmen forscht nicht selber nach Wirkstoffen. Es profitiert von der Arbeit anderer: Manchmal fallen die Wirkstoffe als Nebenprodukte der Forschung nach Arzneimitteln für Volkskrankheiten an. “Die Pharmagiganten sind froh, wenn sie das für sie unlukrative Geschäft abgeben können”, erklärt Kroll.
Vielleicht ändert sich das, wenn aktuelle Pläne der Europäischen Union verwirklicht werden, ähnlich wie in den Vereinigten Staaten, ein Anreizsystem für die Entwicklung von Orphan Drugs zu schaffen.
Frank Frick