Die Videoaufnahmen könnten von einem Korallenriff tropischer Küstengewässer stammen. Doch gelegentlich erscheinen Schlieren, die auf heißes Wasser hindeuten. Und dann kommt ein rauchender Schlot ins Bild: Er verrät, daß das bunte Biotop kilometertief unter dem Meeresspiegel liegt.
Die “Schwarzen Raucher” sind zum Wahrzeichen einer einzigartigen Lebenswelt geworden. Die bis zu zehn Meter hohen Türme wurden 1977 vor den Galapagos-Inseln im Pazifik entdeckt. Hier am ostpazifischen Rücken brechen zwei Erdplatten auseinander, begleitet von häufigen Vulkanausbrüchen und Lavaströmen. In die Risse und Spalten sickert Meereswasser, erhitzt sich und schießt in schwarzen Fontänen wieder aus Löchern und Spalten empor, angereichert mit Mineralien und Schwefelwasserstoff.
Ähnliche vulkanische Aktivitäten haben Forscher inzwischen überall an den ozeanischen Bruchzonen entdeckt, die sich über 46000 Kilometer rund um den Erdball erstrecken. Solche Bruchzonen soll es Schätzungen zufolge auf 23 Prozent der Erdoberfläche geben. Und an diesen Tiefseequellen brodelt eine Lebensfülle, die selbst die der tropischen Regenwälder übertreffen soll.
Die an Hitze, Dunkelheit und Druck angepaßten Organismen könnten die ursprünglichen Besiedler der jungen Erde sein. 20 Jahre lang tasteten sich die Forscher mit unzulänglichen Methoden an dieses faszinierende Biotop heran, aber erst jetzt – mit neuer Technik und schärferer Optik – können sie dieses neu entdeckte, doch altertümliche Ökosystem genauer unter die Lupe nehmen. Die ersten Aufnahmen von Tiefsee-spalten hatten ungewöhnliche, aber eintönige Bilder gezeigt: Im blau-trüben Scheinwerferlicht überzogen dicke Bakterienmatten die Basaltbrocken, Röhrenwürmer wiegten sich im warmen Quellwasser, ihre krustigen Mäntel besiedelt von Muscheln und Garnelen. Alle Lebewesen schienen farblos und blind.
Dr. Richard Lutz, Leiter der Abteilung Tiefsee-Biologie an der Rutgers University New Brunswick, im US-Bundesstaat New Jersey, begeisterte sich für die düsteren Gestalten: “Ich wollte die Organismen genauer beobachten, wollte die Lebensgemeinschaften der Tiefsee-spalten vor Ort und im Detail studieren.” Er tat sich mit Bill Lange am Ozeano- graphischen Institut von Woodshole in Massachusetts zusammen, um bessere Aufnahmetechniken zu entwickeln. Lange paßte eine Videokamera, wie sie für hochauflösendes Fernsehen genutzt wird, an die Tiefsee an. Außerdem entwickelte er eine Makro-Optik für Nahaufnahmen im Zentimeter-Bereich. Die verbesserte Technik hilft einem Projekt, auf das Lutz durch Zufall stieß:
Im Frühjahr 1991 hatte er eine Expedition mit dem Woodshole-Forschungsschiff Atlantis und seiner Tauchkapsel Alvin organisiert. 750 Kilometer südwestlich von Acapulco liegt eine aktive Zone. Hier hatten frühere Messungen einen bevorstehenden Magma-Ausbruch angezeigt. Schon beim ersten Abstieg mit Alvin zum 2500 Meter tiefen Meeresgrund sah Lutz frische Lavaströme, die Kolonien von Röhrenwürmern zerstört hatten. Erstarrte Lava lag wie zerbrochenes Glas verstreut, rauchige Fontänen schossen direkt aus dem rohen Basaltboden. Im aufsteigenden Quellwasser wirbelten Wolken von Bakterien. Die hohe Außentemperatur zeigte: Der Ausbruch war frisch, vielleicht nicht einmal beendet. Die Alvin-Besatzung hielt sich fluchtbereit. Als sie nach kurzen Messungen die anderthalbstündige Rückreise zur Meeresoberfläche antrat, war für Lutz klar: Hier bot sich eine einmalige Gelegenheit zu beobachten, wie sich in einem von der Natur verwüsteten Gebiet wieder neues Leben ansiedelt. Einen Monat später tauchte der Biologe mit seinem Team an der gleichen Stelle: Dicke Bakterienmatten bedeckten Felsen und Lavakrusten. “Wie Algenblüten in überdüngten Gewässern”, erinnert sich Lutz.
Während die Algen – wie alle Pflanzen – ihre Eiweiß- und Zuckermoleküle mit Hilfe des Sonnenlichtes herstellen, greifen die Bakterien der Tiefsee auf eine andere Energiequelle zurück: auf Schwefelwasserstoffgas, das in riesigen Mengen aus den Tiefsee-Spalten strömt. Die gasreichen Spalten sind der Motor, der die Tiefsee-Lebensgemeinschaft antreibt.
Die Bakterien liefern dabei die Nahrungsbasis für eine Vielzahl höherer Organismen. Das Alvin-Team beobachtete winzige Krebse, die im Bakterien-Schnee schwebten. Größere, bodenlebende Tiefsee-Krebse und Krabben stopften Fetzen der Bakterienmatten in ihre Mäuler.
In dem neun Kilometer langen Ausbruchsgebiet markierten die Forscher die Stellen, die sie mit Alvin besucht hatte. Der Zickzack-Pfad kreuzte 400 Grad Celsius heiße Geysire und 30 Grad warme Quellen in dem sonst am Meeresboden 2 Grad kalten Wasser. Ohne die Markierungen hätten die Forscher die sich schnell verändernden Studienplätze bei ihren späteren Besuchen nicht wiedererkannt.
Ein Jahr nach dem Ausbruch hatten die Krebse und Krabben die Bakterien-Weiden schon um die Hälfte abgegrast. Nun streckten Jericho-Würmer ihre 30 Zentimeter hohen, akkordeonartigen Röhren den heißen Quellen entgegen. Rosafarbene aalschlanke Grundfische nagten im 30 Grad warmen Wasser an den Würmern und Bakterienmatten.
Wieder ein Jahr später war der Gehalt an Schwefelwasserstoff um die Hälfte gesunken. Nun besiedelten Riesen-Röhrenwürmer die warmen Spalten. An der Markierung “Höllenloch” hatten ihre üppigen Kolonien die Jericho-Würmer verdrängt. Vereinzelte Schwarze Raucher wuchsen zehn Meter hoch. Einige waren allerdings inzwischen inaktiv, und die Wurmkolonien – ohne Nachschub von Nährstoffen und warmem Wasser – waren bereits abgestorben. Polypen in der Größe von Tischtennisbällen schwebten um die toten Würmer und angelten mit ihren langen Tentakeln nach Nahrungspartikeln. “In diesem gefährlichen instabilen Lebensraum gilt das Motto: Leb’ schnell, stirb jung”, kommentiert Lutz.
1994, drei Jahre nach dem Lavaausbruch, hatten sich Miesmuscheln eingefunden. Sie verdrängten die Röhrenwürmer von den Nahrungsquellen. Beim Besuch im vergangenen Herbst beobachtete das Alvin-Team erstmals ein Dutzend der handspannengroßen Riesenmuscheln Calyptogena. “Bisher hatten wir angenommen, daß diese Muscheln zu den ersten Besiedlern eines neuen Lebensraums in der Tiefsee gehören. Wir haben sogar das Alter von Tiefseespalten danach bestimmt”, sagt Lutz.
Der Meeresboden wird nach einem Lavaausbruch in ganz bestimmter Abfolge neu besiedelt. Auf Bakterien folgen Krabben, Röhrenwürmer und Muscheln. Der Jericho-Wurm kann dabei extremere Temperaturen und höhere Schwefelwasserstoff-Konzentrationen aushalten als der Riesenröhrenwurm, der später kommt. Ohne weitere Lavaausbrüche aber, so die Biologen, dürften in fünf bis zehn Jahren Muscheln die bislang noch dominanten Würmer verdrängt haben.
Beim letzten Tauchgang im vergangenen Herbst kamen erstmals die von Lange montierten Kameras zum Einsatz. Das Alvin-Team war begeistert: Lavafelder und Bodenfauna erschienen in bisher ungesehener Schärfe. Um eine gewünschte Szene ins Kamera-Auge zu bekommen, war allerdings viel Geschick und Geduld erforderlich. Eine leichte Bewegung des Kamera-Arms oder eine Gewichtsverlagerung unter dem dreiköpfigen Alvin-Team konnte das Blickfeld um Meter verschieben, aber “die Alvin-Piloten waren Spitze”, lobt Timothy Shank, ein Mitarbeiter von Lutz. “Oft hielt ich den Atem an, denn mir bot sich ein Bild, das noch kein Menschenauge beobachtet hat”, erinnert er sich an zwei ringkämpfende Röhrenwürmer mit verschlungenen Tentakeln oder an gierig schlingende Krebsmäuler.
Die verbesserte Aufnahmetechnik zeigte eine unerwartete Farbenfülle in der lichtlosen Tiefe – von den roten Tentakelkränzen der Röhrenwürmer bis zu den goldgelben Schalen der Miesmuscheln. Einmal stieß Alvin mit seinem grellen Scheinwerferlicht auf Schwärme von Garnelen mit roten Farbtupfern im Rückenschild.
“Wie bloß erhalten die Krabben hier ihre roten Pigmente?” fragt sich Shank. Diese Farbstoffe können nur photosynthetisch im Oberflächenwasser entstehen. “Steigen die Krabben also zum Fressen hoch, oder nehmen sie die Pigmente aus den zu Boden sinkenden Teilen abgestorbener Pflanzen und Tierleichen auf?” Ein weiteres Rätsel, wie die Krebse und die anderen Erstbesiedler die nahrungsreichen Tiefseequellen finden.
Wahrscheinlich, so Shank, treiben ihre freischwimmenden Larven über Hunderte von Kilometern durchs Meer und lassen sich dort nieder, wo sie die richtigen chemischen Signale erhalten. Wie weit sie sich allerdings entlang der zum Teil unterbrochenen mittelozeanischen Rücken ausbreiten, werden erst genetische Vergleiche der Organismen klären.
Lutz und seine Mitarbeiter fanden inzwischen 29 Tierarten, die das Ausbruchsgebiet wiederbesiedelt haben. Die ursprünglichsten unter ihnen sind die Archaea – bakterienähnliche Urlebewesen, die nach heutiger Kenntnis wohl am Beginn der Evolution aller höheren Lebensformen standen.
Die seltsamsten Arten sind die Riesenwürmer, von den Zoologen Riftia getauft. Sie halten viele Rekorde in der Tierwelt: Mit fast einem Meter pro Jahr sind sie die am schnellsten wachsenden Weichtiere des Meeres, wobei sie eine Länge von 3 Metern und einen Durchmesser von 2,5 Zentimetern erreichen. Nach weniger als zwei Jahren sind die Würmer geschlechtsreif. Die äußerlich nicht unterscheidbaren Männchen und Weibchen stoßen zur Fortpflanzung Wolken von Eiern und Spermien aus, wie Lutz mehrmals beobachten konnte.
Röhrenwürmer gedeihen prächtig in diesem Milieu, das an Land als Sondermülldeponie gelten würde. Dabei ist der aus den Spalten und Schloten strömende Schwefelwasserstoff auch für die Würmer giftig, weil sie für ihre Atmung und ihren Stoffwechsel auf Sauerstoff angewiesen sind. Wie also schafft der Riesenröhrenwurm Riftia es, sich in der Schwefelwasserstoff-Umgebung mit Sauerstoff zu versorgen – ein Problem, das auch andere Lebewesen in diesem Biotop lösen müssen. Dr. Alissa Arp, Riftia-Expertin an der Universität San Francisco, hat inzwischen einige Tricks der Riesenwürmer aufgedeckt. Zunächst einmal halten sich die Würmer in ihrer Chitin-Röhre einen Sack voller Bakterien. Offenbar besteht zwischen ihnen eine symbiotische Beziehung: Die Bakterien stellen aus Schwefelwasserstoff und Kohlendioxid organische Kohlenstoffverbindungen her, die den Würmern als Nährstoffe dienen. Die wiederum versorgen die Bakterien mit dem Schwefelwasserstoff.
“Wir fanden, daß Riftia über seine Tentakeln Schwefelwasserstoff und Sauerstoff aufnimmt. Eine besondere Art des Blutfarbstoffs Hämoglobin kann die beiden Gase gleichzeitig binden”, erklärt Arp. Der Schwefelwasserstoff wird in einem Molekülabschnitt abseits des Sauerstoffs fest gebunden und scheint von den Bakterien “abgesaugt” zu werden. Auf welche Weise sich aber die mund- und darmlosen Würmer die Kohlenstoffverbindungen einverleiben, ist noch unklar. Auch ist es bislang ein Rätsel, wie die Bakterien zu den Würmern in den Sack kommen.
Die Muscheln haben eine ähnliche Entgiftungsstrategie entwickelt. Sie halten sich Schwefelwasserstoff-abbauende Bakterien in ihren Kiemen. Die Muscheln transportieren den Schwefelwasserstoff allerdings nicht mit dem Hämoglobin, sondern mit dem Blutplasma. Solche Entgiftungstricks haben die Krabben nicht nötig. Sie sind entweder sehr robust, oder sie weichen gefährlichen Gaskonzentrationen flink aus.
Die neuen Aufnahmetechniken dürften zusammen mit biochemischen und genetischen Studien dem Leben an den Tiefseespalten noch viele Geheimnisse entlocken. Mit den 29 Arten auf der Pionierfläche gibt es inzwischen 400 neue Tiefsee-Arten zu untersuchen. Dabei wurden bisher nur wenige hundert der aktiven Bruchzonen entlang der mittelozeanischen Rücken kartiert. “Es dürfte Tausende geben”, schätzt Dr. Rachel Haymon. Die Geologin an der University of California in Santa Barbara leitete das Team, das bei Messungen am ostpazifischen Rücken die Ausbruchsstelle vor Mexiko fand. Ihre Erkenntnis: “Die Tiefseespalten spielen eine weit größere Rolle in der geologischen und biologischen Evolution der Erde, als wir früher angenommen hatten.”
Schätze der Tiefsee – schürfen oder schützen?
Die Tiefseespalten der mittelozeanischen Rücken beherbergen nicht nur eine vielfältige Lebenswelt, sie sind auch reich an Mineralien. In die Risse und Spalten der auseinanderbrechenden Erdplatten dringt Seewasser, das sich am aufquellenden Magma erhitzt und zusammen mit gelösten Mineralien wieder zur Oberfläche steigt. Beim Kontakt mit dem kalten Seewasser kristallisieren die Mineralien aus und bauen so Krusten und Kamine auf – die Schlote der Schwarzen Raucher. In ihnen sind Gold, Silber, Kupfer und Schwefel drei- bis zehnmal konzentrierter als in Erzen an Land. Bisher war der Abbau technisch schwierig und meistens unwirtschaftlich. Doch in wenigen Jahren könnte ein Goldrausch auf dem Meeresgrund beginnen.
Die australische Firma Nautilus Minerals Corporation hat sich schon die Abbaurechte für 5000 Quadratkilometer Meeresboden vor der Küste ihres nördlichen Nachbarn Papua Neuguinea gesichert. Laufen weitere Probebohrungen wie geplant und halten die Ingenieure, was sie an technischen Verbesserungen versprochen haben, könnte der kommerzielle Abbau der Schlot-Erze in fünf Jahren beginnen. Nautilus-Chef Geoff Loudon sieht auf dem Meeresgrund die Zukunft der Rohstoffgewinnung: “Die größten Konzerne werden einsteigen – oder eingehen.”
Das hat Biologen und Umweltschützer alarmiert. Sie befürchten eine massive Umweltzerstörung, bevor die Geheimnisse des Tiefseelebens erforscht sind. Sie sind davon überzeugt, daß man dort nicht nur Einblicke in die Entstehung des Lebens gewinnen kann, sondern daß auch ein praktischer Nutzen für die biotechnische Industrie zu erwarten sei, etwa durch hitzeresistente und giftabbauende Enzyme, die vielen Organismen dort das Leben ermöglichen. Nautilus hält den Kritikern entgegen, daß die Schlot-Systeme schon von Natur aus unstete Lebens- gemeinschaften seien, die durch Lavaausbrüche leicht zerstört und anderswo wieder aufgebaut würden.
Um einem befürchteten Raubbau vorzubeugen, will die World Conservation Union der Vereinten Nationen ein internationales System von Tiefsee-Schutzgebieten einrichten. Der Meeresbiologe Dr. Richard Lutz von der Rutgers University in New Jersey hat zusammen mit zahlreichen Kollegen die Tiefseespalten vor der Küste Mexikos zum ersten Tiefsee-Schutzgebiet in internationalen Gewässern erklärt. Die Wissenschaftler haben sich verpflichtet, nur mit Methoden zu forschen, die das Leben nicht stören. “Es ist nur eine Absprache, aber wir hoffen, daß sie von allen respektiert wird und ein Beispiel gibt”, sagt Lutz.
Bruni Kobbe