Das Zeichen ist eindeutig: Wer seinen Gesprächspartner nicht versteht, hält die Hand hinters Ohr. Die Geste ist nicht nur ein Signal, sie hat auch eine positive Wirkung, denn die Hand hinter der Ohrmuschel verstärkt die Geräusche. Vor der Erfindung von Hörapparaten war dies die einzige Methode, besser zu verstehen. Heute können Schwerhörige zu raffinierten High-Tech-Geräten greifen, die dank leistungsfähiger Mikrochips auch bei stärksten Defiziten helfen. Waren die ersten Hörgeräte noch unförmige Apparate mit Karbon-Mikrofon, großem Hörer und Batterieblock, verschwinden die modernen Hörhilfen im Ohr. Da verwundert es, daß hierzulande nur jeder siebte von schätzungsweise 14 Millionen Hörgeschädigten ein Gerät benutzt.
Die Apparate sind inzwischen individuell programmierbar. Doch die Gewöhnung ist schwierig: “Der Schwerhörige muß zunächst das Hören wieder lernen”, sagt Hartmut Berndt, Audiologe in Berlin. Wer eine Zeitlang bestimmte Frequenzen und Konsonanten nicht mehr wahrnimmt, dessen Hörvermögen verändert sich. Je länger die Defizite bestehen, um so schwieriger ist die Umstellung auf ein Gerät. Manche Töne erscheinen mit dem Hörapparat verzerrt, manche zu laut. Nicht selten haben die Betroffenen den Eindruck, schlechter zu hören als zuvor ohne Apparat. Nach Berndts Erfahrungen dauert es etwa ein Vierteljahr, bis sich das Ohr an das Gerät gewöhnt. Allerdings: Eine Schulung beim Hörgeräte-Akustiker kann helfen.
Doch viele Schwerhörige verlieren zu rasch die Geduld. Vor allem bei Senioren landen die Hörapparate oft in der Schublade. Die Geräte pfeifen, dröhnen oder rauschen, sagen sie. Manchmal sind die Klagen berechtigt – vor allem bei über fünf Jahre alten Apparaten gebe es Defizite, sagt Christian J. Becker, Sprecher der “Fördergemeinschaft Gutes Hören” in Hamburg, in der sich rund 2500 Akustiker und 16 Hersteller zusammengeschlossen haben. “Ältere Menschen können Sprache und Hintergrundgeräusche oft nicht gut trennen”, erklärt der Experte. Problematisch sei auch die relativ komplizierte Bedienung der Geräte. Wenn sich der Geräuschpegel stark ändert, beispielsweise beim Verlassen des Hauses, muß man die Geräte per Einstellknopf anpassen, was mit zittrigen Händen schwerfällt.
Wer nicht mehr richtig hören kann, empfindet das meist als Makel: Es ist die Ausnahme, daß sich Prominente wie Rudi Carell oder Bill Clinton zu ihrer Schwerhörigkeit bekennen. Dabei hat nach Untersuchungen des Grünen Kreuzes jeder dritte Deutsche über 40 Jahre Hörprobleme.
Was physiologisch passiert, ehe die Schallwellen vom Gehirn als Geräusch registriert werden können, ist rasch erklärt, gleichwohl nicht trivial. Der Schall gelangt durch den Gehörgang zum Trommelfell, von wo er über Hammer, Amboß und Steigbügel zum schneckenartig gewundenen Innenohr (Cochlea) weitergeleitet wird. In dessen Inneren bewegt sich Flüssigkeit und überträgt die Schwingungen auf die feinen Haare der rund 20000 Sinneszellen. Sie verwandeln die Schwingungen in Nervenreize. Die Reize gelangen über den Hörnerv ins Gehirn, wo sie als Geräusch erkannt oder als Sprache verstanden werden.
Bei rund 80 Prozent der Schwerhörigen findet man den Defekt ganz oder teilweise im Innenohr. Fast immer beruhen die Probleme darauf, daß die Haarsinneszellen die Schwingungen nicht mehr korrekt empfangen. Zu starke oder andauernde Belastung haben die empfindlichen Haare auf den Hörzellen geschädigt – die Haare knicken um, die Zellen sterben ab.
Hauptursache für solche Störungen ist ständiger Berufs-, Verkehrs- oder Discolärm. Auslöser können aber auch plötzliche Geräusche sein, Detonationen oder Tiefflieger. Schlagartig tritt auch der Hörsturz auf, der vor allem bei älteren Menschen zu bleibenden schweren Schäden führen kann: Streßsituationen führen dabei zu plötzlichen Durchblutungsstörungen des Innenohrs.
Etwa ab dem fünften Lebensjahrzehnt läßt das Gehör allmählich nach. Im Durchschnitt vergehen sieben bis zehn Jahre, ehe die Betroffenen ihre Beeinträchtigung wahrnehmen. Wird der Arztbesuch zu lange hinausgezögert, hat das fatale Folgen, denn ungenutzte Hörnerven verlieren ihre Leistungsfähigkeit. Je länger der Schwerhörige abwartet, um so schwerer gewöhnt er sich später an die hilfreiche Technik.
Dabei läßt sich die Schwerhörigkeit mit individuell angepaßten Hörgeräten meist gut behandeln. Rund 500 Modelle stehen zur Wahl.
Zu den traditionellen, hinter dem Ohr zu tragenden HDO-Geräten, hat sich das im Ohr zu tragende IDO-Gerät gesellt, das in den Hörkanal eingesetzt wird. Zu den IDO-Geräten gehört ein Typ mit der Bezeichnung CIC (Completely in the Canal), der völlig im Gehörgang verschwindet. Da diese Geräte praktisch unsichtbar sind, werden sie oft aus kosmetischen Gründen bevorzugt. Zudem haben sie nach Angaben der Hersteller einen besseren Klang und eine geringere störende Rückkopplung. Und durch die natürliche Schallaufnahme im Ohr verbessert sich das Richtungshören.
“Der Trend geht zu mehr High-Tech im Ohr”, sagt Dr. Bernd Hähle, Vorsitzender der Union der Hörgeräte-Akustiker. Fast alle Hersteller bieten mittlerweile digitale Hörgeräte all, die Hören in CD-Qualität ermöglichen, Sprache aus Hintergrundgeräuschen herausfiltern sowie das berüchtigte Rückkopplungspfeifen verhindern und Rauschen unterdrücken. “Ich höre wieder so gut wie vor 50 Jahren”, lobt Annemarie Lindner, Seniorchefin der Calwer Börlind-Kosmetik, die digitalen Winzlinge in ihren beiden Ohren. Erst auf Drängen ihres Sohnes ging sie vor fünf Jahren zu Arzt und Akustiker. “Als ich mit dem neuen Gerät aus dem Laden gekommen bin, habe ich mitten in Stuttgart plötzlich die Vögel singen hören”, erinnert sich die vitale 78jährige.
Hersteller Siemens setzt auf das neue Hörsystem “Prisma”. Mehr als das Dreifache der bisher in digitalen Geräten verfügbaren Rechenleistung steckt in dem winzigen Hörcomputer, der im Gehörgang getragen wird. “Er analysiert mit 150 Millionen Rechenoperationen in der Sekunde die menschliche Sprache”, sagt Siemens-Experte Helmut Lebisch. Dies erleichtere Schwerhörigen Gespräche in lauter Umgebung.
Dank einer “aufwendigen Sprachverarbeitung und umschaltbaren Multimikrofon-Technik” könnten Hörgeschädigte nicht nur frontal, sondern in allen Richtungen gut zwischen Sprache und Störlärm unterscheiden. Frequenzbereiche, die Sprache enthalten, werden hervorgehoben, jene mit Störlärm abgesenkt.
Doch verbesserte Technologie allein, helfe älteren Menschen noch nicht, betont Prof. Martti Sorri vom Technologiezentrum im finnischen Oulu. Er verweist darauf, daß die Hörgeräte effektiv und einfach zu bedienen sein müssen. Zudem müsse die Qualität von Hörgeräten noch verbessert werden, wenn es um Musikgenuß oder das Hören von Naturtönen geht. Doch auch die raffinierteste Technik bleibt unvollkommen. “Man hört nie wieder so wie früher”, gibt Christian Becker zu. Da das Hören ein ganz individueller Vorgang ist, muß der Hörakustiker jedes Gerät anpassen.
Allerdings müssen Hörgeschädigte für Technik und Service tief in die Tasche greifen. Die Krankenkassen zahlen nur Festbeträge von 700 bis 1000 Mark. Das reicht zwar für die einfachen analogen Geräte, digitale Apparate kosten aber bis zu 4000 Mark.
Wenn für beide Ohren Hörhilfen benötigt werden, gibt es nach Beckers Worten für das zweite Gerät 20 Prozent Rabatt. Doch auch damit summiert sich die Eigenbeteiligung für ein modernes Hörgerät auf einen Betrag, der für viele Rentner unerschwinglich ist.
Paul Janositz