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Laufrad am langen Arm

Allgemein

Laufrad am langen Arm
Mit geschickten Gewichtsverlagerungen ohne Antrieb aufwärts. Es sieht aus wie eine Kreuzung aus Riesen- und Mäuserad, doch es funktioniert anders als beide. Der mobile Aussichtsturm ist im Allgäu zu besichtigen.

Unser Gastgeber hatte es sich in der luftigen Höhe von 14 Metern mit einem Buch bequem gemacht. Aus der zwölfeckigen, fast runden Kanzel seines Riesenspielzeugs konnte er die Gegend überblicken und uns kommen sehen. Während wir noch den Wagen parkten, stand er vorsichtig auf, kam mühelos wie im Fahrstuhl, wenn auch auf einem Kreisbogen, heruntergefahren und hielt genau vor uns an, um uns zu begrüßen. Wir waren in der Nähe der Stadt Wangen mit einem der Designer verabredet, die diese Studienausgabe eines Riesenrades mit nur einer Gondel – und einem Gegengewicht für das Gleichgewicht – ganz versteckt in der buckligen Landschaft des Allgäu aufgestellt haben, inmitten von Wiesen und Feldern sturmfest vertäut zwischen den Apfelbäumen einer Streuobstwiese.

Eine Aussichtsplattform: Der originelle Personenaufzug, eine Art Hamster-Laufrad am langen Arm, ist das Werk einer Gruppe ehemaliger Studenten der Fachhochschule für Gestaltung in Schwäbisch Gmünd, die sich “Projektgruppe fern:seher” nennt. Innerhalb weniger Tage hatten sie das Spielzeug als Studienarbeit zum Thema “Balance” entworfen und mit einfachsten Mitteln ein kleines Modell gebaut. Der aufgebaute Prototyp ist eine verbesserte, größere Ausführung, die ihre Aussichtsplattform (Kabine oder Fahrgastzelle) nach den Maßen in der Zeichnung bei senkrechter Stellung des Auslegers 14,73 Meter hoch bringt. Die Bezeichnung “Gondel”, die ich für die Fahrgastzelle mit Blick auf Riesenräder verwendet habe, ist eigentlich nicht sachgemäß, denn die zwölfeckige Kabine ist nicht pendelnd aufgehängt wie die Gondeln eines Riesenrades, sondern fest mit dem Ausleger verbunden. Wer einen Umlauf mit dem Laufrad machen möchte, muß deshalb pro Umdrehung einmal in der Gegenrichtung an der Innenwand des zwölfeckigen Gehäuses entlanglaufen, will er sich nicht unversehens im Kopfstand wiederfinden.

Spiel mit der Schwerkraft: Zum Verständnis der Fahrkunst möchte der Fahrgast wissen, in welchen Stellungen (“Gleichgewichtslagen”) er den Aufzug zur Ruhe bringen kann und ob er ihn mit geringem Kraftaufwand in der Umgebung solcher Ruhelagen auf Dauer festhalten kann (ob das Gleichgewicht “stabil” ist). Die Lösung: Durch Abstimmung des Gegengewichts auf die restliche Massenverteilung unter Einschluß der Masse des Fahrgasts läßt sich jede Lage des Mechanismus zu einer sicheren Ruhelage machen. In vereinfachter Form besteht der Aufzug aus folgenden Teilen: Laufrad (Masse M1) mit dem Schwerpunkt in B; Gestänge (gerade Stange der Masse M2) mit den Längen b und c zu beiden Seiten des Drehpunkts A wie in der Zeichnung, unter dem Winkel φ gegen die Horizontale geneigt; Fahrgast (Masse m am Ort seines Schwerpunkts) im Abstand r vom Zentrum B des Laufrads und in Richtung α gegen die Senkrechte; Gegengewicht (Masse m0) am fernen Ende der Stange. Die Lage xs, ys des Schwerpunkts für das Gesamtsystem wird in rechtwinkligen Koordinaten x (horizontal, nach rechts) und y (vertikal, nach oben) mit dem Ursprung im Drehpunkt A beschrieben durch die Gleichgewichtsbedingungen

xS = (-Dcosφ> + mrsinα)/M yS = (-Dcosφ – mrsinα)/M mit den beiden Abkürzungen für die Gesamtmasse M und den Drehmomentenfaktor D: M = M1 + M2 + m0 + m; D = M1c + M2(c-b)/2 – m0b + mc. Der Mechanismus ist im Gleichgewicht, wenn sein Schwerpunkt unter oder über dem Drehpunkt A liegt (xS = 0). Die Gleichgewichtslage ist statisch “stabil”, wenn der Schwerpunkt unter dem Drehpunkt liegt (yS 0). Das heißt: Unter der Voraussetzung, daß der Fahrgast seine Lage im Laufrad unverändert beibehält, pendelt sich der Mechanismus nach einer kleinen Störung seiner Lage wieder in die Gleichgewichtslage ein.

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Nach den Gleichgewichtsbedingungen ist |D|/M der Abstand des Schwerpunkts der Anlage vom Drehpunkt für den Fall r = 0, wenn der Schwerpunkt des Fahrgasts also im Zentrum B des Laufrads liegt. Wird der Abstand zu groß (>mr/M), kann der Fahrgast für kleine Neigungswinkel φ (cosφ>mr/|D|), in der Nähe der horizontalen Lage des Auslegers, durch Schwerpunktsverlagerung kein Gleichgewicht mehr herstellen. Dann ist der Aufzug nicht mehr vollständig regelbar. Um solche Schwierigkeiten beim Aufzugbetrieb auszuschließen, sollte man das Gegengewicht m0 für jeden Fahrgast so einrichten, daß möglichst D = 0 wird. Bei dieser Justierung herrscht stabiles Gleichgewicht in beliebigen Lagen φ beim Winkel α = 0, bei dem der Fahrgast genau in der Mitte des Laufradbodens steht. Als wir den Aufzug besichtigten, hatten die Parameter etwa folgende Werte: b = 3 m, c = 6 m; M1 = 60 kg, M2 = 60 kg, m0 = 300 kg. Mit der Masse m = 75 kg (Gewicht einer Person) wird D = 0. Der Wert von r hängt sowohl vom Durchmesser 2R = 2,20 m des Laufrads als auch von der Körpergröße h des Fahrgasts ab und läßt sich nur ungenau schätzen. Setzen wir h = 1,80 m als “Normgröße” ein und vermuten den Schwerpunkt bei h/2 = 0,90 m, ergibt sich bei aufrechter Haltung des Fahrgasts r = R – h/2 = 0,20 m. Könnte der Fahrgast seinen Körperschwerpunkt über das Zentrum des Laufrads heben, im vorliegenden Fall über 1,10 m, würde das Gleichgewicht labil. Der Aufzug käme vorübergehend ins Kippen, bis der Fahrgast ihn – zum Beispiel durch Hinhocken – wieder unter Kontrolle brächte.

Fahrmanöver: Man fährt unerwartet leicht in diesem Aufzug, in dem man Arbeit nur leisten muß, um die Massen in Bewegung zu setzen oder wieder abzubremsen. Den Aufstieg kriegt man bei diesem Gleichgewichtsspielzeug geschenkt, weil die Hebung der eigenen Masse durch die Senkung des Ausgleichsgewichts kompensiert wird. Bedauerlicherweise läßt sich – wie beim Schaukeln und anderen sportlichen Spielen – die zum Beschleunigen aufgewandte Arbeit beim Abbremsen nicht wieder als Energie in die Muskeln zurückspeichern. Die während der Fahrt zu überwindenden Widerstände (Lagerreibung und Luftwiderstand) sind nicht spürbar. Die kurzzeitigen Relativbewegungen des Fahrgasts im Laufrad zur Steuerung des Betriebs werden in der Bilanz vernachlässigt. Näherungsweise wird die Drehung des Aufzugs allein von den Drehmomenten der Gewichtskräfte angetrieben, sowohl infolge der Unausgewogenheit des Mechanismus selbst (wenn D nicht null ist) als auch durch das Gewicht des Fahrgastes. Die Änderung des gesamten Drehimpulses, Jdφ/dt, ist gleich der Summe der Gewichtsmomente: J d2φ/dt2 = D g cosφ – m g r sinα Darin ist J = M1 (R2 + c2) + M2 (b2 + c2)/3 (b+c) + m0 b2 + m c2 das Trägheitsmoment in bezug auf den Drehpunkt, das sich zusammensetzt aus den Beiträgen der Komponenten einschließlich des Gestänges, das als Stab gerechnet wird, und mit den angegebenen Daten zu dem krummen Wert J = 8,173 kgm2 zusammenrechnet. D ist der vorher “Drehmomentenfaktor” genannte Parameter, der beim Einsteigen des Fahrgasts in das Laufrad durch ein passendes Ausgleichsgewicht der Masse m0 möglichst genau zu null gemacht werden sollte. Für einen “ausgewuchteten” Aufzug (D = 0) reduziert sich die Bewegungsgleichung zu J d2φ/dt2 = – m g r sinα(t) Im Minusvorzeichen des Drehmoments kommt zum Ausdruck, daß sich der Aufzug entgegen dem Uhrzeigersinn dreht, wenn der Fahrgast in seinem Laufrad im Uhrzeigersinn läuft. Dem treibenden Gewichtsmoment mit dem Gewicht mg der Person und dem Hebelarm r sinα der rechten Seite der Gleichung steht links die träge Masse der Anlage in Form des vergleichsweise mächtigen Trägheitsmoments J gegenüber, das die Anlage ihrem langen Ausleger verdankt. Daher reagiert der Aufzug auf Steuerungsimpulse des Fahrgasts langsam (oder träge) und läßt sich mühelos beherrschen.

Die Gleichung hat übrigens – mit J = (7/5)mr2 – dieselbe Form wie die Bewegungsgleichung einer Kugel vom Radius r, die eine schiefe Ebene hinunterrollt. Um die Analogie deutlich zu machen, habe ich den Sinus ausgeschrieben, obwohl der Winkel a im Beispiel des Aufzugs so klein bleibt, daß man den Sinus durch den Winkel (im Bogenmaß) ersetzen dürfte. Die Analogie läßt sich einfach mit einer rollenden Kugel auf einem Tablett realisieren. Wenn man die Neigung α seiner Ebene langsam ändert, liefert sie eine anschauliche Vorstellung dafür, wie die Regelung des Aufzugs zustande kommt.

ine Freizeitattraktion: Im Mäuserad Runden zu drehen, macht Spaß und ist ein sportliches Vergnügen. Ich habe zwar im Zirkus schon ähnliche Gleichgewichtsnummern gesehen, aber mich erst in Wangen davon überzeugt, daß man nicht Akrobat sein muß, um ein Laufrad am langen Arm zu beherrschen. Den jungen Designern ist zu wünschen, daß ihre patentierte Konstruktion zahlreiche Anwender findet. (Kontaktadresse: Fachhochschule für Gestaltung, Schwäbisch Gmünd, Tel. 07171/932610).

Wolfgang Bürger

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