Die Patientin liegt auf einem Bett aus Kunststoffschaum. Die perfekt geformte Liege umschließt ihren Körper, eine Kunststoffmaske fixiert ihren Kopf. Mit leisem Surren fährt der Tisch vor das dicke Rohr; aus ihm werden gleich die heilenden Strahlen kommen, die den Tumor im Kopf der Frau vernichten sollen. Noch ehe die Patientin zum Nachdenken kommt, wird sie erlöst. Nur drei bis vier Minuten hat die schmerzlose Behandlung gedauert, morgen geht es weiter – sieben Tage die Woche, drei Wochen lang. Dann, so hat ihr der Arzt von der Universitäts-Klinik Heidelberg versprochen, habe sich der Tumor zurückgebildet und würde, wenn alles gut geht, auch nicht wiederkommen.
Heilung ohne Übelkeit, Haarausfall und zerstörtes Gewebe – so soll die Krebsbehandlung aussehen, die zum Jahresende bei der Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI) beginnt und für die zur Zeit die letzten Tests laufen. In den schmucklosen Hallen vor den Toren Darmstadts, wo Hunderte von Physikern an der Synthese überschwerer Atomkerne basteln, hat sich eine kleine Abteilung namens Biophysik etabliert, mit dem Ziel, Ionen-Strahlen für medizinische Zwecke zu nutzen. Angespornt von Erfolgen amerikanischer Forscher, vor allem an der Harvard-Universität in Boston, hat die Truppe um Prof. Gerhard Kraft die weltweit modernste Bestrahlungsanlage dieser Art aufgebaut.
Sie wird aus einem Komplex von Injektoren, einem Linearbeschleuniger und einem Synchrotron mit Atomkernen vorwiegend niedriger Gewichtsklasse – wie Kohlenstoff – gespeist. Die Partikel schießen in einem nur wenige Millimeter dünnen Strahl mit hoher Energie ins Gewebe des Patienten bis an die Stelle, wo der Tumor sitzt. Dort entfalten sie ihre zerstörerische Kraft: Sie brechen den DNA-Doppelstrang so effektiv auf, daß die Tumorzelle kaum eine Chance hat, ihr beschädigtes Erbgut zu reparieren: Die Zelle stirbt.
Schwere Ionen haben den Vorteil, daß sie sehr viel Energie in einem sehr kleinen Gebiet am Ende ihrer Flugbahn abgeben. Damit zerstören sie den Tumor, das gesunde Gewebe im Einschußkanal bleibt dagegen verschont.
In langen Versuchsreihen hat sich Kohlenstoff als ideale Munition erwiesen. Schwerere Kerne wie Neon oder Argon – die zunächst favorisiert wurden – richten im Einschußkanal zu großen Schaden an, leichtere Elemente können den Krebszellen nichts anhaben. Kohlenstoff ist die goldene Mitte: Er schont gesundes Gewebe und schafft es dennoch, langsam wachsende sauerstoffarme Tumore, die besonders strahlenresistent sind, zu vernichten.
Während der Bestrahlung steuert ein Computer zwei Magnetpaare, die die geladenen Teilchen zeilenweise von oben nach unten ablenken – wie die Elektronen in der Fernsehröhre. Die Eindringtiefe variiert der Rechner, indem er die Energie des Beschleunigers – und damit der Atomkerne – verändert. Die Steuerung der GSI-Physiker ist extrem schnell: In einer Tausendstel Sekunde rast der Strahl einen Zentimeter weit. Für eine Schicht braucht er wenige Sekunden, für den ganzen Tumor weniger als eine Minute.
Betreut werden die Patienten von Prof. Michael Wannenmacher von der Universitäts-Klinik Heidelberg. Er stellt die Diagnose und wählt die Patienten aus. Das Deutsche Krebsforschungszentrum, ebenfalls in Heidelberg, hat die Präzisionsliege entwickelt und legt die Strahlendosis im Behandlungsplan fest. Bei der GSI wird dieser Plan in Steuerdaten für den Computer übersetzt.
Stolz sind die Forscher auf den Positronen-Emissions-Tomographen (PET), der am Forschungszentrum Rossendorf bei Dresden gebaut wurde und die simultane Überwachung der Bestrahlung erlaubt. Während die Ionen durchs Gewebe schießen, erzeugen sie Radioisotope, die Positronen emittieren. Sie verwandeln sich mit ihren Antiteilchen, den Elektronen, in Gammaquanten. Sobald die Ionen abgeschaltet sind, registriert eine Kamera diese Blitze, und bestimmt die tatsächlich im Tumor angekommene Strahlendosis. Die Möglichkeit, an jedem Ort des Tumors die Strahlenmenge individuell zu dosieren, bietet kein anderes Labor der Welt.
Jedes Jahr erkranken in der Bundesrepublik rund 340000 Menschen an Krebs. Etwa ein Fünftel davon, die an schwer operierbaren Tumoren leiden oder an Geschwulsten, die resistent gegen herkömmliche Bestrahlungsmethoden mit Gammastrahlung sind, würden von der Darmstädter Therapie profitieren. Doch die Kapazität bei der GSI reicht nur für 70 bis 100 Patienten pro Jahr, schätzt Gerhard Kraft. Denn die 400 Millionen Mark teure GSI ist und bleibt vor allem ein Labor für die physikalische Grundlagenforschung. “Wir erhalten dreimal im Jahr je drei Wochen Strahlzeit”, sagt Kraft. In den halbstündigen Pausen, wenn ein Patient den Therapieraum verläßt und man die Liege mit dem nächsten Patienten einrichtet, wird der Ionenstrahl zu den Physikern in den Nachbarhallen umgeschaltet.
Kraft träumt deshalb von einer Ionenquelle nur für Tumorbestrahlungen. Ein solches – im Vergleich zur gewaltigen GSI-Maschine – kompaktes Klinikgerät bräuchte einen Linearbeschleuniger von 15 Meter Länge und ein Synchrotron mit einem Durchmesser von 18 Metern, wie eine Studie der GSI zeigt. Kosten: 30 Millionen Mark. Hinzu kämen die passende Infrastruktur und die Betriebskosten. “Bei 1000 Patienten pro Jahr würde eine Behandlung 30000 Mark kosten”, schätzt Gerhard Kraft. “Wir rechnen damit, daß sich die Anlage nach zehn Jahren amortisiert hat.”
30000 Mark – das klingt teurer als es ist. Zum Vergleich: Eine Operation kostet genausoviel, eine Chemo-Therapie ist sogar mehr als doppelt so teuer. “Wenn die Erfahrungen in Darmstadt positiv ausfallen, könnte in fünf Jahren ein Beschleuniger für schwere Ionen an einer deutschen Klinik in Betrieb gehen”, hofft Kraft.
Ähnliche Pläne hegt auch Dr. Heinrich Homeyer, Leiter des IonenstrahlLabors am Hahn-Meitner-Institut (HMI) in Berlin. Er will Patienten ebenfalls mit Ionen bestrahlen – allerdings mit den leichtesten, die es gibt: Protonen, den Kernen des Wasserstoffs.
Als ersten Schritt zu einem künftigen Klinikbeschleuniger hat Homeyers Team das 20 Jahre alte Zyklotron am Institut modifiziert und um einen Therapieplatz erweitert, an dem Augentumore behandelt werden sollen. Das Genehmigungsverfahren läuft, und Homeyer hofft, die ersten Patienten noch in diesem Jahr unters Protonen-Skalpell legen zu können.
Protonen können – wie die schwereren Ionen – sehr genau an ihren Einsatzort dirigiert werden, bei vergleichsweise geringem technischen Aufwand. Protonen kommen nach vollbrachtem Flug durchs Gewebe abrupt zum Stillstand. Die Zielgenauigkeit liegt bei unter einem Millimeter – aber nur, wenn der Tumor nicht tiefer als 25 Millimeter unter der Haut liegt.
Die Ärzte haben mit den Protonen leichtes Spiel: Die Kernteilchen haben dieselbe biologische Wirksamkeit wie die seit Jahrzehnten eingesetzten Gammastrahlen. Eine komplizierte Umrechnung der Dosis, wie sie bei Schwerionen nötig ist, entfällt also. Protonen sind eine ideale Waffe gegen schnellwachsende sauerstoffreiche Tumore. Der Grund: Protonen nehmen in der Zelle weniger den DNA-Doppelstrang ins Visier, sondern erzeugen vor allem freie Radikale, die zusammen mit freiem Sauerstoff als Zellgift wirken.
Was die technische Raffinesse angeht, kann sich die Berliner Anlage nicht mit der GSI-Maschine in Darmstadt messen. Die Protonen werden nicht zeilenweise über den Tumor geführt, sondern einfach durch Blenden begrenzt, die die Größe der Geschwulst haben. Auch die Regelung der Eindringtiefe ist Low-Tech: Mittels eines rotierenden Turbinenrades mit verschieden dicken Folien wird die Energie der Protonen 50mal in der Sekunde variiert. Mit einer Maximalenergie von 73 Megaelektronenvolt (MeV) sind die Protonen aus dem HMI-Zyklotron zu energiearm, um tiefer als vier Zentimeter unter die Haut zu dringen – zur Bestrahlung beliebiger Körperregionen wären 235 MeV nötig.
Bei der Kosten-Nutzen-Rechnung eines künftigen kompakten Protonenbeschleunigers für Kliniken kommt Homeyer zu einem günstigeren Ergebnis als sein Darmstädter Kollege Kraft: 20000 Mark pro Patient. Im Preis inbegriffen wäre eine “Gantry” – eine drehbare Strahlführung, die um den Patienten herumgeschwenkt wird und Bestrahlungen aus unterschiedlichen Richtungen erlaubt.
An den weltweit fünf Einrichtungen – zwei davon in den USA, je eine in England, Frankreich und der Schweiz – hat sich die Protonen-Therapie bereits bewährt. Auf die modernste Anlage der Welt am Paul-Scherrer-Institut (PSI) nahe Zürich setzen die Physiker und Mediziner große Hoffnungen. Dort werden seit knapp zwei Jahren auch tiefliegende Tumore bestrahlt, nachdem mit der Vorgängeranlage schon 2000 Patienten mit Augentumoren behandelt wurden. Am PSI drehen sich die Gantry und die Liege computergesteuert in einem riesigen Zylinder.
Weil die Erfolge der Protonen-Therapie anerkannt sind, kommen die Krankenkassen für die Bestrahlungen am Hahn-Meitner-Institut auf. Die GSI dagegen muß erst noch beweisen, daß schwere Ionen ihr Geld wert sind. In einem Beirat sitzt deshalb auch ein Vertreter der Krankenkassen, der die Erfahrungen an der GSI bewerten muß, wenn in ein paar Jahren über die Kostenübernahme für die Schwerionen-Therapie durch die Kassen entschieden wird. Diese haben aber bereits signalisiert, daß sie schon vorher bei manchen Patienten einen Teil der Kosten übernehmen wollen.
Auch wenn Heinrich Homeyer diese Hürde mit seinem Team in Berlin bereits genommen hat, ist eine Klinikmaschine noch in weiter Ferne. Weder physikalische Beschränkungen noch die Kosten sieht er als Hindernis – die beiden Einrichtungen in den USA arbeiteten schließlich seit längerem zuverlässig und kostendeckend: “Das Problem sind die Ärzte”, sagt Homeyer. Aufwendige Anlagen wie die in Berlin könnten nur entstehen, wenn die Mediziner dies wirklich wollten.
Homeyer hatte Glück, weil er mit Prof. Michael Foerster und Prof. Norbert Bornfeld von der Benjamin Franklin Klinik in Berlin engagierte Fürsprecher fand. Andere Ärzte kämpfen dagegen um ihre Pfründe: “Chirurgen wollen operieren, Radiologen wollen mit Gammastrahlen behandeln, Chemotherapeuten setzen weiter auf ihre Zellgifte”, so Homeyers Erfahrung. Und wenn sich Mediziner dennoch einmal für die Bestrahlung mit Protonen eingesetzt hätten, konnten sich die Kliniken nicht einigen, wo der prestigeträchtige Beschleuniger stehen soll. Motto: Wenn er nicht an meiner Klinik gebaut wird, dann soll er lieber gar nicht gebaut werden.
Um Prestige geht es auch bei der Neutronen-Bestrahlung von Tumoren, die seit 1985 am Forschungsreaktor München (FRM-I), dem berühmten Atom-Ei in Garching, betrieben wird. Im Gegensatz zu den “sauberen” Beschleunigern bei der GSI oder am HMI, leben die Physiker in Garching mit dem Stigma der Atomspaltung, durch die sie in ihrem Kernreaktor Neutronen erzeugen. Tue Gutes und rede darüber – nach diesem Motto haben die Planer des umstrittenen Nachfolgereaktors FRM-II versucht, den medizinischen Nutzen der Neutronen in den Vordergrund zu stellen, obwohl in Garching – wie in Darmstadt und Berlin – die Medizin nur Abfallprodukt der physikalischen Forschung ist.
Am alten Reaktor wurden bis heute rund 600 Patienten bestrahlt. Weil die Energie der Neutronen am 40 Jahre alten Atom-Ei mit 2 MeV gering ist und Neutronen auf ihrer Bahn das gesunde Gewebe vor dem Tumor stärker schädigen als etwa Protonen oder schwere Ionen, werden in Garching vor allem Patienten mit oberflächennahen Tumoren behandelt – zum Beispiel mit Speicheldrüsen- und Prostata-Karzinomen, Brustkrebs oder Melanomen. Ein zeilenweises Scannen mittels Magneten ist bei den ungeladenen Neutronen nicht möglich, deshalb werden die Tumore großflächig bestrahlt.
Die Erfahrungen seien gut, sagt Prof. Michael Molls vom Klinikum rechts der Isar. Oberflächennahe Tumore habe man mit Neutronen “im Griff”. Die meisten der 80 Patienten pro Jahr würden allerdings erst überwiesen, wenn die Tumore schon Metastasen gebildet hätten, 70 Prozent von ihnen mußten schon andere Therapien über sich ergehen lassen. Molls möchte diesen Menschen helfen: “Mit Neutronen können wir den Tumor verkleinern und dem Patienten mehr Lebensqualität geben.”
Vom neuen Reaktor FRM-II erhofft sich der Strahlenmediziner eine höhere Neutronenausbeute und damit eine zügigere Behandlung. Zudem möchte der Mediziner die sogenannte Neutroneneinfang-Therapie vorantreiben. Bei diesem jungen Verfahren wird dem Patienten eine Bor-haltige Substanz gespritzt, die sich im Tumor anreichert.
Durch Beschuß mit langsamen Neutronen, die FRM-II in großer Zahl liefern wird, zerfällt das Bor in Lithium und Helium sowie in ein Gammaquant. Die Energie der beiden Atome zerstört auf eng begrenztem Raum die umliegenden Tumorzellen.
Der biologische Effekt ähnelt dem von Ionen, allerdings mit dem Vorteil, daß die heilenden Teilchen direkt im Tumor erzeugt werden und die Neutronen nur als “Auslöser” dienen. Noch ist offen, wie das Bor nur in die Tumorzellen, nicht jedoch in gesunde Zellen kommt.
Auch am Deutschen Elektronensynchrotron (DESY) in Hamburg haben Mediziner die Teilchenschleudern für ihre Zwecke nutzbar gemacht. Ihr Ziel ist dabei nicht die Tumorvernichtung, sondern die Diagnose von Verengungen der Herzkranzgefäße mittels Röntgenstrahlung. Bisher verwenden die Ärzte die “Invasive Koronar-Angiographie”, ein Verfahren, bei der mit einem Katheter ein Kontrastmittel vom Bein über die Aorta direkt ins Herzkranzgefäß gebracht wird. Die Methode ist nicht ungefährlich: Bei 1,5 Prozent der Untersuchten kommt es zu Komplikationen, etwa jeder tausendste Patient stirbt – und das bei über 400000 Eingriffen pro Jahr allein in Deutschland.
Die Ärzte würden deshalb das Kontrastmittel viel lieber in den Arm spritzen. Weil sich das Mittel im Blut in Sekundenschnelle verdünnt, ist eine entsprechend intensivere Röntgenquelle nötig – und die gibt es am HASYLAB, dem Synchrotronstrahlungs-Labor von DESY. Synchrotronstrahlung entsteht, wenn Elektronen oder Positronen in einem Ringspeicher mit nahezu Lichtgeschwindigkeit um die Kurve rasen. Bei ihrer Karussellfahrt verlieren die Teilchen Energie, die als energiereiche und intensive Röntgenstrahlung zum Beispiel in der Materialforschung genutzt wird.
Das Röntgenlicht an HASYLAB ist so intensiv, daß eine Aufnahme nur eine Viertelsekunde dauert. Der Patient sitzt dabei auf einem Stuhl, der innerhalb einer Sekunde um 50 Zentimeter nach oben oder nach unten fährt, damit der flache Strahl die gesamte Herzregion trifft. Der Stuhl wird vom EKG automatisch gestartet, so daß der Arzt festlegen kann, in welcher Phase des Herzschlags das Bild entstehen soll.
Der Haupt-Trick des Verfahrens besteht darin, gleichzeitig zwei Bilder mit geringfügig unterschiedlicher Photonenenergie zu schießen. Der eine Strahl ist so eingestellt, daß er vom Kontrastmittel, das Jod enthält, absorbiert wird, der andere Strahl wird vom Jod durchgelassen. Subtrahiert man beide Bilder im Computer, zeichnet sich das Herzkranzgefäß deutlich ab – der Arzt kann beurteilen, ob eine Bypass-Operation oder eine Öffnung des Gefäßes mittels Ballondilatation nötig ist.
Noch ist die “Intravenöse Koronar-Angiographie” im Versuchsstadium. Eine Untersuchung an 300 Patienten soll bis zum Jahresende klären, ob die Bilder aussagekräftig genug sind, damit ein Arzt die richtige Diagnose treffen kann. Die DESY-Forscher sind optimistisch: Wie ihre Kollegen in Darmstadt und Berlin planen sie ein abgespecktes Synchrotron, das wirklich in jede Klinik paßt: Es hätte einen Durchmesser von nur zwei Metern.
Bernd Müller