Gefahr für das Universum! Die Physiker provozieren den Untergang des Weltalls.” So verkündet Paul Dixon, Psychologe an der University of Hawaii. Schuld seien die Teilchenbeschleuniger, die immer leistungsfähiger werden. Schon 1995 nahm Dixon an einer Demonstration vor dem Tevatron in Batavia, im US-Bundesstaat Illinois, teil. Dort am Fermilab befindet sich der zur Zeit größte Beschleuniger der USA. Die bei der Kollision zwischen Protonen und Antiprotonen freigesetzte Energie könnte “ein Loch ins Universum reißen”, behauptet er.
Rein theoretisch wäre es durchaus möglich, daß sich das Universum in einem metastabilen Zustand befindet. Durch einen hochenergetischen Anstoß könnte es über die Schwelle zu einem energetisch günstigeren Zustand gelangen, einem neuen “Vakuum”. Die Physiker bezeichnen eine solche Veränderung als Phasenübergang. Er würde sich mit Lichtgeschwindigkeit und ohne Abschwächung durchs ganze Universum fortpflanzen und alles zerstören.
“Wenn wir eine Sternexplosion sehen, hat uns nur ein Bruchteil ihrer Energie erreicht”, sagt Rocky Kolb vom Fermilab. Dixons Thesen nimmt er allerdings nicht ernst. “Dagegen wird sich bei einem Phasenübergang die Stoßfront niemals abbauen. 100 Milliarden Lichtjahre entfernt ist die Stoßfront noch genauso kräftig, als würde man sich unmittelbar dort aufhalten, wo sie ausgelöst wurde.”
Doch zur Angst vor einem Weltuntergang besteht kein Grund. Dixon hat eine rege Phantasie – und er hat sich nicht genügend informiert. Denn erstens haben die Physiker über solche Fragen längst nachgedacht. Und zweitens produziert die Natur jeden Tag viel energiereichere Teilchenkollisionen, als wir Menschen im Labor es wohl jemals können. “Für Mutter Natur sind unsere Experimente Alltagsgeschäft”, gibt Michael Turner Entwarnung, der als Kosmologe an der University of Chicago und am Fermilab forscht.
In jeder Sekunde knallen 100 Millionen hochenergetische Partikel der kosmischen Strahlung auf die Erde. Manche Teilchen enthalten 100millionenmal mehr Energie, als die größten Teilchenbeschleuniger weltweit erreichen können. Es handelt sich um subatomare Partikel mit der Energie eines Backsteins, der von einem Tisch zu Boden fällt.
Was geschieht? Fast nichts. Kein Loch reißt im Gewebe der Raumzeit auf, keine Supernova explodiert im Vorgarten. Keine Lawine kosmischer Erschütterungen rollt los, die alles unter sich begräbt. Etwas aber passiert doch: Dringt ein hochenergetisches Partikel der kosmischen Strahlung, ein Proton oder Atomkern, in die Erdatmosphäre ein, wird dort eine Kaskade physikalischer Reaktionen mit den Luftteilchen ausgelöst. Die Folge sind Elektronen- oder Positronenschauer. Und darüber freuen sich die Physiker – denn es hilft ihnen, der Natur und dem Ursprung dieser hochenergetischen kosmischen Strahlung auf die Spur zu kommen.
Um diese Schauer zu messen, wurden bei dem japanischen Bergstädtchen Akeno, 120 Kilometer westlich von Tokio, 111 einzelne Geräte über eine Fläche von 100 Quadratkilometern verteilt. Die Anlage AGASA (Akeno Giant Air Shower Array) ist der bislang empfindlichste Detektor für den energiereichsten Anteil der kosmischen Strahlung.
Andere Instrumente haben bislang nur drei ultraenergetische Partikel in der kosmischen Strahlung registriert: Teilchen mit Energien über 1019 Elektronenvolt. Ein Elektronenvolt ist dabei die Energie, die ein Elektron gewinnt, wenn es durch eine Spannungsdifferenz von einem Volt im Vakuum beschleunigt wird. Bisher war also die Annahme gerechtfertigt, daß die Spitze der Energieskala der kosmischen Strahlung bekannt ist. Doch seit 1990 hat AGASA sechs weitere solcher Teilchen mit Energien bis 1021 Elektronenvolt nachgewiesen. Dies gab kürzlich Masahiro Takeda von der Universität Tokio bekannt, Leiter der AGASA-Forschergruppe. Die Obergrenze der kosmischen Energien ist offenbar noch nicht gefunden.
Die Messungen von AGASA lassen auch Rückschlüsse auf die Herkunft der Partikel zu. Denn Teilchen mit Energien über 5 * 1019 Elektronenvolt wechselwirken mit den Photonen der kosmischen Hintergrundstrahlung. Sie ist vom Feuerballstadium des Urknalls übriggeblieben und füllt den ganzen Weltraum nahezu gleichförmig aus. Durch die Wechselwirkung verlieren die Partikel nach und nach einen Teil ihrer Energie. Die Greisen-Zatsepin-Kuzmin-Grenze (GZK-Grenze, benannt nach den Wissenschaftlern, die sie erstmals beschrieben haben) von 5 * 1019 Elektronenvolt gibt das Maximum für die Energie von Teilchen an, die sich aus den fernsten Regionen des Universums zur Erde verirren. Doch die neu entdeckten Partikel halten sich nicht an die GZK-Grenze. Sie können daher keinen ferneren Ursprung haben als höchstens 150 Millionen Lichtjahre “Jetzt müssen wir herausfinden, welche Objekte solche Teilchen auf derart hohe Energien beschleunigen können”, nennt Raymond Protheroe von der University of Adelaide in Australien das nächste Forschungsziel. Möglicherweise stammen sie aus den Zentren benachbarter Galaxien. Dort hausen supermassive Schwarze Löcher, die Materie nicht nur ansaugen, sondern in ihrer Umgebung auch fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen können.
Doch Glennys Farrar von der Rutgers University in New Jersey und Peter Biermann vom Max-Planck-Institut für Radioastronomie in Bonn haben kürzlich Hinweise gefunden, daß ein Teil der energiereichen kosmischen Partikel von Quasaren stammen könnte, die viel weiter entfernt sind. Zum Beispiel von dem Quasar 1204+281, der rund zwölf Milliarden Lichtjahre entfernt ist. Um zu erklären, wie die Partikel den weiten Flug überstehen konnten, ohne an der GZK-Grenze zu scheitern, postulieren die Forscher ein sogenanntes supersymmetrisches Teilchen, dessen Existenz von Physikern vorausgesagt wurde, die an einer vereinheitlichten Theorie aller Naturkräfte arbeiten. Es heißt S° und ist ein Mischling aus den drei bekannten Quarks up, down und strange sowie einem Gluino, dessen Existenz bislang nicht nachgewiesen ist. “Ein S°-Teilchen ist neutral und interagiert kaum mit den Photonen der kosmischen Hintergrundstrahlung”, sagt Farrar. “Es kann mühelos viele Milliarden Lichtjahre durchqueren.”
Um das Rätsel der Herkunft der ultraenergetischen kosmischen Strahlung zu lösen, sind noch größere Detektoren erforderlich. Im US-Bundesstaat Utah wird Ende 1999 das High Resolution Fly’s Eye Projekt seine Arbeit aufnehmen. Es kann fünf oder sechs Partikel mit Energien über 1020 Elektronenvolt pro Jahr nachweisen. Ein Teil der Anlage ist schon in Betrieb.
Noch ehrgeiziger ist das Pierre Auger-Projekt. Benannt wurde es nach dem französischen Physiker Pierre Victor Auger (1899 bis 1993). Er hatte 1926 den Auger-Effekt entdeckt, der dem Auftreten von Elektronenschauern in der kosmischen Strahlung zugrunde liegt und in der Elektronenspektroskopie zur Untersuchung von Festkörperoberflächen Anwendung findet.
Das Auger-Projekt soll 30- bis 40mal empfindlicher als AGASA sein und wird aus 1600 Detektoren bestehen, die auf einer Fläche von 3000 Quadratkilometern in Argentinien aufgestellt werden. Beteiligt sind 40 Institute aus 19 Ländern, darunter auch Deutschland. Die Gesamtkosten sind auf 50 Millionen Dollar veranschlagt. Wenn alles planmäßig verläuft, werden die ersten Messungen in vier Jahren anlaufen.
Die Existenz der 1020-Elektronenvolt-Partikel widerlegt alle Befürchtungen, daß die nächste Generation von Teilchenbeschleunigern zu einer Katastrophe führen könnte. Das betonten Martin Rees von der Cambridge University und Piet Hut vom Institute for Advanced Study in Princeton schon 1983: “Die Wahrscheinlichkeit eines Phasenübergangs ist völlig zu vernachlässigen, weil im Bereich unserer Vergangenheit bereits 100000 Kollisionen kosmischer Teilchen mit Energien von 1020 Elektronenvolt stattgefunden haben”, schrieben sie in der Fachzeitschrift Nature. “Wir können sicher sein, daß von keinem Teilchenbeschleuniger in voraussehbarer Zeit eine Bedrohung ausgeht.”
Der aufgerüstete Teilchenbeschleuniger Tevatron wird demnächst 2 Ÿ 1012 Elektronenvolt erreichen – ein neuer Rekord, doch das ist immer noch 100000000mal weniger Energie als die der kosmischen Partikel. Solange die Erde existiert, gab es in ihrer Atmosphäre schon über 1025 Kollisionen im Energiebereich des Tevatron.
Tevatron wird eine Million Kollisionen pro Sekunde erzeugen. Selbst wenn der Beschleuniger die nächsten vier Milliarden Jahre in Betrieb wäre, würde dort nur ein Prozent der kosmischen Teilchenkollisionen stattfinden, die die Erde bereits unbeschadet überstanden hat. “Alle vorhersehbaren, im Labor vorbereiteten Zusammenstöße sind geradezu sanft im Vergleich mit jenen, die schon wiederholt – und ohne katastrophale Folgen – im interstellaren Raum abgelaufen sind”, resümiert Martin Rees. “Die Berechnungen waren aber nicht völlig unnütz. Tatsächlich ist Vorsicht geboten bei Experimenten, die Energiekonzentrationen schaffen, wie es sie möglicherweise in der Natur niemals gegeben hat. Wir können nur hoffen, daß Außerirdische, falls sie über eine gute Technologie verfügen, ebenfalls vorsichtig sind.”
Rüdiger Vaas