Synästhesie – Wenn die Töne Farben haben
Sind Synästhetiker die Vorboten einer neuen Menschheitsgeneration mit leistungsstärkeren Gehirnen?
Der kleine Vladimir Nabokov hatte an seinen hölzernen Buchstaben-Klötzchen wenig Freude: “Die Farben von den Buchstaben sind falsch”, beschwerte sich der Sechsjährige, der später ein bekannter russischer Schriftsteller werden sollte. Seine Mutter verstand den Ärger ihres Sohnes: Die Farben der Holzbuchstaben stimmten einfach nicht mit jenen überein, die Vladimir vor seinem inneren Auge sah, wenn er einen bestimmten Buchstaben las oder hörte.
Nabokov und seine Mutter gehören zu einer Gruppe Menschen, die auf einen bestimmten Außenreiz nicht nur mit einer, sondern mit mehreren Empfindungen reagieren. Solche Synästhetiker (griechisch syn: zusammen und aisthesis: Wahrnehmung) “schmecken” Farben, “sehen” Töne, “fühlen” Geschmacksnoten. Dabei erfahren sie die zusätzlichen Sinneseindrücke als ebenso real wie die durch einen Außenreiz ausgelösten Empfindungen. Der Ursache für dieses Phänomen ist derzeit Frank Baumgart am Institut für Neurobiologie in Magdeburg mit Hilfe eines Kernspintomographen auf der Spur: Dieses Gerät erstellt Bilder des Gehirns, auf denen stärker durchblutete – also aktive – Regionen farbig hervorgehoben werden. Hört ein Synästhetiker, der beim Klang eines Tones stets eine bestimmte Farbe sieht, diesen Ton, so wird nicht nur sein Hörzentrum in der Großhirnrinde aktiv, sondern ebenso das Sehzentrum – als habe er gleichzeitig eine farbige Fläche gesehen.
Die neuronale Erregung, die für den optischen Eindruck verantwortlich ist, entsteht jedoch nicht in den Sehsinneszellen im Auge, sondern im Gehirn selbst. “Bei Synästhetikern dringen Erregungen ins Bewußtsein, die bei anderen Menschen unterdrückt sind”, erklärt der Psychiater und Neurologe Prof. Hinderk Emrich von der Medizinischen Hochschule in Hannover das außergewöhnliche Phänomen. Seiner Theorie zufolge wird die Vernetzung zwischen Außenreiz und Empfindung bei den fünf Sinnen – Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten – erst im Laufe der ersten Lebensmonate konditioniert durch die Eindrücke aus der Umwelt und durch die Erfahrung, wie Mitmenschen auf die entsprechenden Reize reagieren. Gestützt wird Emrichs These durch eine Studie des Psychologen Simon Baron-Cohen von der Universität Cambridge: Der Brite setzte Säuglinge akustischen Reizen aus und maß dabei deren Hirnströme in verschiedenen Gehirnbereichen. Bei jedem der kleinen Probanden stellte er nicht nur Aktivitäten im Hörzentrum, sondern auch im Sehzentrum fest. Das könnte bedeuten, daß Babys anfangs Sinnesreize undifferenziert erleben.
Synästhesie scheint also eine angeborene Fähigkeit zu sein, die bei den meisten Menschen im Laufe des Lebens verlorengeht oder sich mehr oder weniger stark abschwächt. Bei einigen dringen diese neuronalen Erregungen jedoch zeitlebens stark ins Bewußtsein vor und können sogar ähnliche Phänomene wie bei einem LSD-Trip verursachen. Dabei brauchen Synästhetiker keine Drogen, und sie sind nicht psychisch krank. Inzwischen ist auch zweifelsfrei erwiesen, daß ihre Wahrnehmungen nicht das Produkt lebhafter Phantasie sind. Werden Synästhetiker nach Jahren unvermittelt wieder nach der Farbe eines Buchstabens oder dem Tastempfinden einer Geschmacksrichtung befragt, geben sie dieselben Antworten wie im ersten Versuch – die Eindrücke bleiben ein Leben lang unverändert.
Hätte diese Fähigkeit keinen Nutzen, wäre sie in der Menschheitsentwicklung wohl längst verlorengegangen. Doch welchen Vorteil hat die Synästhetikerin, vor deren innerem Auge beim Hören einer bestimmten Melodie stets goldene Bälle herabfallen und metallfarbene Wellen schwingen? Oder der Mann, der beim Lutschen eines Pfefferminzbonbons an den Fingerspitzen glasglatte Röhren fühlt?
Der amerikanische Neurologe Richard Cytowic – Pionier der Synästhesie-Forschung – weiß inzwischen, daß die meisten seiner Testpersonen sich überdurchschnittlich gut an Zahlen, Termine oder Wörter erinnern. “Er muß ,eins` gesagt haben, denn die Zahl war weiß”, half einer Frau beispielsweise ihr Farbenhören beim Erinnern einer Telefonnummer. Einem männlichen Farbenhörer fiel es hingegen schwer, sich auf den Inhalt einer Rede zu konzentrieren: Jedes Wort rief in seinem Hirn ein farbiges Feuerwerk hervor.
Für Cytowic ist Synästhesie ein Relikt aus grauer Urzeit, in der alle Menschen diese Gabe besessen hätten. Er ging in den achtziger Jahren noch von einem Synästhetiker unter 25000 bis 100000 Menschen aus. Emrich hingegen schätzt die Zahl auf einen unter 500 bis 1000 und sieht in den Synästhetikern die Avantgarde einer neuen Menschheitsgeneration, die mehr Wahrnehmungen gleichzeitig verarbeiten kann als die heutige. “Möglicherweise”, so spekuliert er, “sind die Synästhetiker Vorboten auf dem Weg zu ganz neuen geistigen Perspektiven.” bs
Falsche Erinnerungen – “Ich weiß etwas, was keiner weiß”
Manchmal weiß das Gehirn Dinge, die nie geschehen sind. Vor Gericht kann das fatal werden.
Jean war zwei Jahre alt, als er entführt werden sollte. Noch als erwachsener Mann erinnerte er sich genau an den Kerl, der ihn auf der Champs-Elysées nahe beim Grand Palais aus dem Kinderwagen zerrte. Nur der mutigen Gegenwehr seines Kindermädchens hatte er es zu verdanken, daß die Tat vereitelt wurde. “Sie erhielt dabei einige Kratzwunden im Gesicht, deren Spuren ich noch heute sehen kann”, erzählte Jean Jahrzehnte später. Menschen seien zusammengelaufen, und als ein Polizist mit kleiner Pelerine und weißem Stab kam, sei der Entführer geflohen.
Die Szene, die Jean immer “mit größter visueller Genauigkeit” vor seinem geistigen Auge sah, hatte nur einen kleinen Schönheitsfehler: Es gab sie nie. Als Jean 15 Jahre alt war, gestand das Kindermädchen den Eltern, die Entführung damals erfunden zu haben. Jean hatte 13 Jahre mit der Erinnerung an eine Geschichte gelebt, von der er glaubte, daß sie sich ereignet haben müsse, weil sie ja immer wieder erzählt wurde. Also hatte er sich eine Erinnerung zurechtgebastelt und sich später an diese Erinnerung erinnert. Viele echte Erinnerungen, schrieb Jean Piaget später, als aus ihm ein berühmter Psychologe geworden war, seien zweifellos solche Erinnerungen an falsche Erinnerungen.
Laboruntersuchungen haben gezeigt, daß es vergleichsweise einfach ist, Menschen falsche Gedächtnisinhalte einzupflanzen – etwa Kindheitserinnerungen, die so nie stattgefunden haben. Im Labor, berichtet Wolfgang Hell, Professor für Angewandte Psychologie der Universität Münster, könne er jemanden “ebenso einfach zu einer Fehlerinnerung bringen, wie ich ihn auf eine optische Täuschung hereinfallen lassen kann”. Es gibt viele Hinweise darauf, daß dies auch im “richtigen Leben” möglich ist, etwa durch Suggestivfragen bei Verhören der Polizei oder in einer psychotherapeutischen Sitzung.
Schon einzelne Wörter innerhalb eines Fragesatzes können Erinnerungen prägen. Es macht beispielsweise einen Unterschied, ob man den bestimmten oder den unbestimmten Artikel benutzt: In einem Experiment sollten Versuchspersonen sich an einen Film erinnern. Die Frage “Sahen Sie den zerbrochenen Scheinwerfer?”, führte dabei zu deutlich mehr Erinnerungen an Glasbruch als: “Sahen Sie einen zerbrochenen Scheinwerfer?” In der Realität des Films war gar kein Glas zerbrochen.
Besonders Kinder sind anfällig für solche steuernden Einflüsse. Dieses Phänomen macht häufig Gerichtsverfahren, bei denen über den Vorwurf sexueller Mißhandlung von Kindern entschieden werden soll, zu einem Balanceakt. Mehr als einmal stellte sich heraus, daß emotional engagierte Vertreterinnen der Kinder durch ihre Befragung Ereignisse suggerierten, bis ihre Schützlinge von deren Realität überzeugt waren.
Ein anderer Fall: Ein Verbrechen ist tatsächlich geschehen. Der Augenzeuge wird aber nachträglich neuen und irreführenden Schilderungen, beispielsweise durch Berichte in den Medien, ausgesetzt. Dies kann die Erinnerung an das tatsächliche Ereignis erheblich verzerren, ohne daß sich der Zeuge dessen bewußt ist. Neurobiologen erklären dies mit der “Spurentheorie”: Eine ursprünglich im Gehirn gezogene Gedächtnisspur wird durch neue Inhalte oder spätere Informationen überschrieben – genauso, wie eine alte Spur im Schnee unlesbar wird, wenn eine neue sie überprägt.
Das Gedächtnis, so zeigte die Forschung, kann nicht als Tonbandprotokoll verstanden werden, auch wenn wir das, was wir “aus dem Gedächtnis” reproduzieren können, nur allzugerne für “wahr” halten. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat das Phänomen der falschen Erinnerung positiv umgedeutet: “Jeder von uns”, meinte er, “wird sich eines Tages die Biographie erfinden, die er für sein Leben hält.” cem
Phantomschmerz – “Wie Stromstöße und glühende Eisen”
Mehr als 50000 Menschen in Deutschland leiden an Schmerzen, wo nichts schmerzen kann.
Ich fragte die Schwester: Ist es ab? Als sie ja sagte, wußte ich, daß ein neuer Lebensabschnitt beginnt.” 11 Jahre ist es her, daß Matthias Baier aus der Narkose aufwachte und sein rechtes Bein entfernt worden war.
Die Amputation war eine Erlösung. Jahrelang hatten ihn die Folgen eines Verkehrsunfalls ans Bett gefesselt: Schädelbruch, Rippenbrüche, und das zerquetschte Bein. Zwei dutzendmal wurde er in Vollnarkose operiert, hinzu kamen unzählige kleinere Eingriffe. Die Ärzte versuchten, sein Bein zu retten, doch es infizierte sich, Transplantationen gelangen nicht, die Wundschmerzen wurden unerträglich.
Wenige Tage nach der Amputation brauchte er keine Schmerzmittel mehr, konnte endlich mittags mit anderen im Speisesaal sitzen. Er lernte, mit einer Prothese zu gehen, den Verlust des Beins zu überwinden. Doch es meldete sich zurück. Heute ist es präsenter als je zuvor. Baier weiß, wie lang es ist, wie dick die Wade ist, er spürt jeden Zeh und wenn er möchte – glaubt er, weiß er -, kann er das Knie bewegen: “Ich könnte jetzt hinlangen und es anfassen.” Und dann kamen im Lauf des ersten Jahres nach der Amputation auch die Schmerzen. “Zunächst dachte ich, jetzt hat sich der Stumpf entzündet”, erzählt Baier, “doch es war tatsächlich das verlorene Bein, das schmerzte.”
Die Phantomschmerzen nehmen zu, und Baier sucht Hilfe am Institut für medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie der Universität Tübingen. Dr. Ellena Huse, Psychologin am Institut, versucht, mehr über die Art seiner Schmerzempfindung zu erfahren, auch um Veränderungen nach einer Therapie erfassen zu können. Baier beschreibt seine Schmerzen als stechend, aber nicht als glühend oder brennend. Oft sei es ein Gefühl, ähnlich wie bei Stromstößen, die im Abstand von zehn Sekunden aufträten. Oder er habe ein Gefühl, als stünde er mit der Fußsohle auf einer scharfen Kante. Dabei spüre er, wie seine beiden mittleren Zehen sich festkrallen würden.
Im Herbst und Winter kommen die Schmerzen häufiger als im Frühjahr oder Sommer – meist, wenn das Wetter umschlägt. Wichtig ist Ablenkung: Im Urlaub nimmt er die Schmerzen viel weniger wahr.
Huse fragt auch nach dem emotional gefärbten Schmerzempfinden. Baier erlebt die Schmerzen als quälend, grausam, marternd und oft auch als unerträglich. Nein, lähmend seien sie nicht – immerhin könne er sich bewegen.
Eine schlüssige Erklärung für Phantomschmerzen haben die Forscher nicht. Irgendwo in der langen Schmerzbahn vom Stumpf bis zum Gehirn haben sich Nervenzellen verselbständigt und melden autonom Schmerzimpulse, die sie eigentlich nicht melden dürften. Das können Nervenbahnen sein, die im Stumpf enden, oder Neuronen im Rückenmark. Beteiligt sind auf jeden Fall der Thalamus, die zentrale Schaltstation im Zwischenhirn, und auch Nervengruppen im somatosensorischen Cortex – jenem Teil der Großhirnrinde, in dem uns Sinneseindrücke von der Körperoberfläche bewußt werden.
Die Schätzungen, wie viele Menschen an Phantomschmerzen leiden, gehen weit auseinander. Jeder zweite Amputierte, sagt eine Studie, acht von zehn eine andere. Oft litten die Gepeinigten schon vor der Amputation an Schmerzen im betroffenen Arm oder Bein, wie auch Baier nach seinem Unfall. Viele Wissenschaftler gehen davon aus, daß durch solche länger dauernden Schmerzen die Nervenzentren zur Bildung chronischer Schmerzimpulse programmiert werden.
Matthias Baier nimmt Schmerzmittel nur, wenn es nicht mehr anders geht. Die Mittel machten müde, und das könne er bei seiner Arbeit nicht gebrauchen. Lieber beiße er die Zähne zusammen, solange es gehe. Doch die Psychologin schlägt vor, in Zukunft ein Opiat in niedriger Dosierung dauerhaft einzunehmen. Das könnte die Schmerzen ausschalten, der Körper würde sich bei regelmäßiger Dosierung an Nebenwirkungen gewöhnen. Die Furcht vor psychischer Abhängigkeit sei unbegründet.
Baier wird es sich überlegen. Am liebsten wäre es ihm, es ginge ohne – so wie früher. Er haßt Abhängigkeiten. Letztes Jahr ist er sogar Fallschirm gesprungen. Sein Motto: “Schließlich kann ich mir nur noch ein Bein brechen.” be
Das Capgras-Syndrom – Doppelgänger im Körper des Vaters
Manche Patienten verwechseln vertraute Personen mit geheimnisvollen Doppelgängern.
Vor drei Jahren fiel Dieter Seeler (Name geändert) nach einem Verkehrsunfall ins Koma. Als er zwei Wochen später daraus erwachte und sich allmählich von seiner Schädelverletzung erholte, waren seine Eltern sehr erleichtert. Dieter Seeler gewann sein Sprachvermögen und seine geistigen Fähigkeiten zurück und erscheint äußerlich seither wieder vollkommen gesund. Und doch verhält er sich seinen Eltern und anderen nahestehenden Personen gegenüber äußerst seltsam. Er hält sie für betrügerische Schauspieler, die ihn als Doppelgänger zu täuschen versuchen. “Diese Personen sehen aus wie meine Eltern”, sagt er, “aber sie sind nicht mit ihnen identisch.” Hört er nur ihre Stimme, zum Beispiel am Telefon, kommt sein kurioser Verdacht nicht auf.
Seeler leidet unter dem Capgras-Syndrom. Die Bezeichnung dieser seltenen neurologischen Störung geht auf einen französischen Psychiater gleichen Namens zurück, der die Symptome 1923 erstmals beschrieben hat.
Damals – in der Zeit Sigmund Freuds – versuchten viele Mediziner das Syndrom mit Hilfe psychoanalytischer Erklärungsmuster zu fassen: Bei den Patienten sei eine unterschwellige Abneigung gegen ihre Eltern zum Vorschein gekommen, die zur Leugnung von deren Existenz führe. Gegen diese These spricht aber, daß die Wahrnehmungsstörung mancher Capgras-Patienten nicht die Eltern, sondern einen Nachbarn oder den eigenen Hund betrifft. Heute weiß man, daß das Capgras-Syndrom eine organische Ursache hat:
Schuld ist eine Verlet- zung der rechten Groß-hirnhälfte, vorn an der Seite, sowie im Bereich des unteren Schläfenlappens. Die Folge ist eine Entkopplung von Emotionen einerseits und der Wahrnehmung beziehungsweise dem Gedächtnis für Gesichter andererseits, meinen Vilayanur Ramachandran und William Hirstein, zwei Neuropsychologen der Universität von Kalifornien in La Jolla bei San Diego, .
Ramachandran und Hirstein vermuten, daß bei den Capgras-Patienten Teile der Verbindung zwischen Großhirnrinde und Mandelkern unterbrochen sind und deshalb die Gefühlstönung bei der Wahrnehmung von Gesichtern ausfällt. Vertraute Personen werden aber an solchen Gefühlen erkannt, auch wenn uns das in der Regel gar nicht bewußt ist. Mangelt es an dieser emotionalen Untermalung, ist man tief verunsichert. Man bemüht sich, eine Erklärung für das Ausbleiben des erwarteten Gefühls zu finden. Manche Patienten deuten das Phänomen damit, daß die Gesichter in Wirklichkeit gar nicht den Personen gehören, denen sie gleichen, sondern fremden Doppelgängern, zu denen sie keine emotionale Nähe verspüren. Eine solche Rationalisierung kommt dem Normalmenschen zwar grotesk vor. Ramachandran hat jedoch bei einigen Patienten nachgewiesen, daß derartige Erklärungen für bare Münze genommen werden, wenn die rechte Hirnhälfte beschädigt ist. Diese zensiert normalerweise überzogene Spekulationen der linken Hemisphäre, wo sich die beschriebenen Vorgänge abspielen. Ist diese Realitätsprüfung beeinträchtigt, können Hirngespinste wie beim Capgras-Syndrom ins Bewußtsein gelangen.
Um ihre Hypothese zu prüfen, haben Ramachandran und Hirstein dem Capgras-Patienten Seeler zahlreiche Fotografien von bekannten und unbekannten Gesichtern gezeigt, darunter auch Porträts seiner Eltern. Dabei maßen die Forscher seinen elektrischen Hautwiderstand, um den Grad seiner emotionalen Reaktion zu bestimmen. Fremde Gesichter berühren einen in der Regel nicht, bei Bildern von Personen, die einem persönlich viel bedeuten, nimmt die Gefühlsäußerung dagegen zu. Nicht so bei Dieter Seeler: “Im Gegensatz zu den Kontrollpersonen war sein Hautwiderstand bei Bildern, die vertraute Personen zeigten, nicht größer als bei anderen Porträts”, fassen Ramachandran und Hirstein ihre Ergebnisse zusammen. Das stützt die Hypothese von der emotionalen Abkopplung.
Das Capgras-Syndrom macht nicht einmal vor der eigenen Person halt. Auf die Frage, wer auf einem zwei Jahre alten Foto abgebildet sei, das Dieter Seeler zeigt, der damals noch einen Schnurrbart trug, antwortete Seeler :”Das ist ein anderer Dieter Seeler, der so aussieht wie ich, aber nicht ich ist – er hat einen Schnurrbart.”
Nach Ramachandran ermöglichen solche Befunde tiefe Einsichten über die Natur unseres Geistes: “Philosophen haben oft betont: Wenn es überhaupt einen Aspekt unseres Lebens gibt, den wir für grundlegend halten können, dann ist es die Vorstellung von unserer persönlichen Identität. Der Capgras-Patient jedoch bewohnt ein bizarres Niemandsland zwischen Illusion und Realität, wo selbst die Annahme des Ich auf tönernen Füßen steht.” rv
Prosopagnosie – Leben in einer Welt ohne Gesichter
Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, ist durch das gleichnamige Buch seines Psychologen weltberühmt geworden. Manchmal streichelt er auch Parkuhren, weil er ein Kindergesicht darin sieht.
Etwas Licht in die Dunkelkammer des Geistes brachte die Entdeckung von Hirnregionen, die für das Erkennen von Gesichtern zuständig sind. Sie liegen vor allem im unteren Schläfenlappen der Großhirnrinde. Mit Hilfe von Elektroden, die ins Gehirn von Affen eingesetzt wurden, konnten einzelne Nervenzellen aufgespürt werden, die ausschließlich reagieren, wenn Gesichter ins Blickfeld kommen. Manche dieser Zellen sind sogar nur auf bestimmte Perspektiven spezialisiert.
Werden diese Hirnregionen beschädigt – durch eine Verletzung oder einen Tumor – kann es zur Prosopagnosie kommen: Die Betroffenen haben Probleme bei der Wahrnehmung von Gesichtern, auch wenn ihr Sehsystem intakt ist und sie alles andere gut zu erkennen vermögen.
Für manche Prosopagnosiker ist die ganze Welt gesichtslos geworden. Der New Yorker Neuropsychologe Oliver Sacks berichtete in seinem zum Bestseller gewordenen Buch von einem Professor an einer Musikhochschule, der nicht nur die Fähigkeit einbüßte, Gesichter zu erkennen und deshalb seine Frau gelegentlich mit einem Hut verwechselte, sondern auch Gesichter vermutete, wo gar keine waren: “Auf der Straße tätschelt er im Vorbeigehen Hydranten und Parkuhren, weil er sie für Kinder hält; liebenswürdig spricht er geschnitzte Pfosten an und ist erstaunt, wenn sie keine Antwort geben.”
Andere Patienten wissen zwar, daß sie ein Gesicht sehen, können es aber nicht mehr identifizieren. Einem Soldaten, der 1944 am Kopf verwundet wurde, kamen danach alle Gesichter gleich vor: als seltsam flache, weiße, ovale Teller mit großen dunklen Augen.
Allerdings konnte er sich die Gesichter von Menschen, die er vor seiner Verletzung gesehen hatte, noch vorstellen. Ein anderer Patient beschrieb seine Beeinträchtigung folgendermaßen: “Ich vermag ganz klar die Augen, die Nase und den Mund zu erkennen, aber ich kann daraus kein Bild formen. Sie scheinen alle wie mit Kreide auf einer schwarzen Wandtafel gezeichnet zu sein.” Manche Prosopagnosiker können auch Tierarten oder einzelne Tiere nicht mehr auseinanderhalten. Eine Hobby-Ornitho-login büßte nach einer Kopfverletzung die Fähigkeit ein, zwischen Amsel, Fink und Star zu unterscheiden, ein Farmer war nicht mehr in der Lage, die Gesichter seiner Kühe auseinanderzuhalten, obwohl er noch erkennen konnte, daß es sich um Kühe handelte. Ein Wärter in einem Naturkundlichen Museum verwechselte sein eigenes Spiegelbild mit dem Schaubild eines Affen.
Manche Forscher sehen in der Prosopagnosie eine Art Umkehrung des Capgras-Syndroms. Während Capgras-Patienten zwar Gesichter erkennen, ihr Gehirn sie aber nicht mit den entsprechenden Gefühlen koppelt und auch nahestehende Menschen ihnen deshalb fremd erscheinen, reagieren Prosopagnosiker durchaus emotional auf vertraute Gesichter: Die Meßgeräte registrieren eine körperliche Erregung. Dennoch können die Menschen auch bei guten Bekannten nicht sagen, wen sie vor sich haben. rv
Déjà vu – “Das habe ich doch schon mal erlebt!”
Es geschieht in der U-Bahn oder im Urlaub. Das, so wissen wir plötzlich, kennen wir schon. Die Spannbreite dieses Phänomens reicht bei manchen Menschen bis zur Erinnerung an ein Leben vor der Geburt.
Ein Phänomen, bei dem die Zahl der Erklärungsversuche fast so groß ist wie die Zahl der Wissenschaftler, die sich damit beschäftigen – das ist Déjà vu, dieses “das kenne ich doch”, an dem sich schon manche Psychologen, Psychoanalytiker und Parapsychologen, Mediziner, Neurologen und Hirnphysiologen die Zähne ausgebissen haben: Wie sollen sie etwas erklären, das sich experimentell nicht nachvollziehen läßt, dieses plötzliche Gefühl der Vertrautheit mit einer Situation, dieses intensive, aber auch unbestimmte Empfinden, genau das gleiche schon einmal erlebt zu haben. Es sind diese Momente, in denen sich alle Sinne schärfen, man auf merkwürdige Weise hellwach wird und seine Umgebung ungemein stark wahrnimmt.
Für das Gehirn ist ein solches Erlebnis Schwerstarbeit. Im Netzwerk millionenfach miteinander verknüpfter Nervenzellen versucht es, das Rätsel zu lösen: Wo in aller Welt habe ich diese alte Frau schon einmal und exakt so aus einem Bus steigen sehen? Hinter dem Empfinden des Absurden und Paradoxen verbirgt sich nach Ansicht vieler Experten meist eine Fehlleistung unseres inneren Archivs.
Dr. Walter von Lucadou, Physiker, Psychologe und Leiter der Parapsychologischen Beratungsstelle in Freiburg, geht von der Annahme aus, daß drei Stationen unser Gedächtnis prägen: der “Arbeitsspeicher” (Kurzzeitgedächtnis), der “Index”, wo Erinnerungsinhalte wie in einem Register verzeichnet sind, und das “Archiv” (Langzeitgedächtnis), mit dessen Hilfe schließlich die Schlagworte aus dem Index mit Inhalten gefüllt werden.
Das funktioniert aber nicht immer – und so kann es zur Kryptomnesie kommen, der vergessenen Erinnerung: Die ist zwar irgendwo im Langzeitgedächtnis vorhanden, jedoch unauffindbar – also vergessen -, weil sie nie in den Index eingetragen wurde. Und nur, was im Index steht, kann vom Gehirn wieder aufgespürt werden. Was dort nicht verzeichnet ist, ist verloren – bis bestimmte äußere Ereignisse diese Erinnerung oft ungewollt aktivieren: Jemand geht durch ein Museum und weiß plötzlich, was er hinter der nächsten Tür sehen wird – weil er vor zehn Jahren einen Bericht im Fernsehen darüber gesehen hat. Sein Gedächtnis hatte die Eindrücke gespeichert, aber eben nicht katalogisiert. Im Moment des “Wiedersehens” kommt es zu einer Art Kurzschluß – das Déjà vu ist perfekt. Ganz ähnlich ist es mit der alten Dame, die aus dem Bus steigt: Vor vielen Jahren hat man vielleicht eine ähnliche Person unter ähnlichen Umständen auf einem Platz aus einem Bus steigen sehen, uninteressant für die reguläre Ablage – aber nicht vergessen vom großen Archivar.
Während hier die Wissenschaft eine akzeptable Spekulation als Erklärung bietet, gibt es für eine andere Erscheinungsform des Déjà vu bis heute nicht mehr als paranormale Deutungsversuche: die angeblichen Erinnerungen aus einem früheren Leben.
Der isländische Psychologe Prof. Erlendur Haraldsson hat in hinduistisch geprägten Ländern, wo der Glaube an die Wiedergeburt eine große Rolle spielt, Kinder befragt, die sich angeblich an ein früheres Leben erinnern. Kinder deshalb, weil “solche Erinnerungen üblicherweise einsetzen, kurz nachdem die Kinder das Sprechalter erreicht haben, ungefähr im zweiten oder dritten Lebensjahr”. Besonders beein-druckt hat ihn die Geschichte der zweieinhalbjährigen Thusita Silva aus Sri Lanka. Sie erzählte eines Tages von ihrem früheren Leben im 48 Kilometer entfernten Akuressa, einem Ort, der ihrer Familie bis dahin völlig unbekannt war. Sie sei in schwangerem Zustand von einer schmalen Hängebrücke gestürzt und ertrunken. Ein Mann habe vergeblich versucht, ihr zu helfen, ihr Vater habe Jeedin Nanayakkara geheißen.
Haraldsson besuchte Akuressa – und fand dort tatsächlich eine Hängebrücke. In der Nähe lebt eine Familie Nanayakkara. Neun Jahre vor der Geburt Thusita Silvas war die damals hochschwangere Schwiegertochter, Chandra Nanayakkara, von der Hängebrücke gestürzt und ertrunken. Ihr Mann hatte vergeblich versucht, sie zu retten.
Manche Parapsychologen erklären dies so: Gedanken, Emotionen und andere Aspekte einer Person, die nach einem schweren Unfall noch wenige Minuten lebt, können sich hin und wieder verselbständigen, eine gewisse Zeit bestehen bleiben und schließlich die noch nicht gefestigte Persönlichkeit eines kleinen Kindes infiltrieren.
Walter von Lucadou von der Parapsychologischen Beratungsstelle in Freiburg philosophiert: “Raum und Zeit hat der Mensch erfunden. Aber im Bereich des Unbewußten gibt es Prozesse, da spielen diese Größen bei der Übermittlung von Informationen nicht mehr die entscheidende Rolle.”
Beatrix Stoepel / Claudia Eberhard-Metzger / Bernhard Epping / Rüdiger Vaas / Wolfgang Gessler