Eine einfache E-mail genügt. Für ihr spektakuläres Vorhaben, einen Lebendimpfstoff gegen Aids am Menschen zu testen, suchen die Wissenschaftler der International Association of Physicians in Aids Care (IAPAC) auch im Internet nach Freiwilligen – viele Hunderte meldeten sich bereits. Charles Farthing, der dem Besucher der IAPAC-Homepage freundlich entgegenlächelt, und sein Team von 39 Ärzten will sich der Impfung auch selber unterziehen. Viel Skepsis ernten sie von seiten ihrer Kollegen: Der Leiter des Berliner Robert-Koch-Instituts, Reinhard Kurth, spricht von einem “Selbstmordkommando”, der norwegische Aids-Forscher Stig Fröland zeigt sich “entsetzt”, weil man über die Langzeitfolgen eines solchen Versuchs noch viel zu wenig wisse.
“Es ist Zeit, der Tradition von Louis Pasteur zu folgen”, ist dagegen die Meinung der IAPAC-Wissenschaftler. Sie nehmen sich den berühmten französischen Wissenschaftler zum Vorbild, der im vorigen Jahrhundert den Tollwutimpfstoff an sich selbst und seinen Mitarbeitern getestet hatte. Angesichts von täglich 8000 Neuinfektionen mit HIV weltweit dürfe man sich nicht nur damit begnügen, Forschungsergebnisse zu debattieren, sagte Joe Zuniga, Direktor der IAPAC und einer der Freiwilligen, gegenüber dem amerikanischen Sender ABC.
Die US-Wissenschaftler wollen für ihren Versuch ein modifiziertes HI-Virus verwenden, dem das sogenannte nef-Gen fehlt. Der amerikanische Forscher Ronald Desrosiers vom New England Regional Primate Research Center in Massachusetts stellte schon vor fünf Jahren fest, daß diese “Delta-nef”-Variante Affen vor einer Infektion mit SIV schützen kann. Aids-Forscher müssen bei Versuchen mit Affen das Simian Immunodeficiency Virus SIV verwenden, weil die Tiere mit dem humanen Immunschwächevirus nicht infizierbar sind. Die Erfolge haben Desrosiers motiviert, die Impfung mit der Delta-nef-Variante jetzt beim Menschen zu erproben. Auch er selbst wird sich die abgeschwächten Viren spritzen lassen.
Zur gleichen Zeit wie die Selbstversuchspläne wurden allerdings Ergebnisse anderer Wissenschaftler bekannt, die das Experiment in einem gefährlichen Licht erscheinen lassen: Ruth Ruprecht vom Bostoner Dana-Farber Cancer Institute stellte der Fachwelt die “Delta-3”-Variante des SI-Virus vor.
Die Virus-Erbsubstanz ist bei dieser Modifikation an drei Stellen verändert und sollte damit theoretisch noch stärker abgeschwächt sein als der Delta-nef-Impfstoff, bei dem die Wissenschaftler nur an einer Stelle verändernd eingreifen.
Ein gefährlicher Irrtum: In 4 der 18 geimpften Affen haben sich die Viren über einen Zeitraum von vier Jahren stark vermehrt, und ein Tier entwickelte sogar Aids-Symptome. “Richtig nervös” machen Ruth Ruprecht daher die geplanten Selbstversuche der IAPAC-Wissenschaftler.
Die lassen sich jedoch nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Ihr Zeitplan: Im Jahr 2000 wollen sie mit der Impfung von etwa einem Dutzend Freiwilligen beginnen – vorausgesetzt, die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA erteilt die Genehmigung.
Eine Impfung mit einem lebenden Retrovirus wie HIV unterscheidet sich grundlegend von anderen Impfungen. Der Erreger behält trotz der genetischen Manipulation seine Fähigkeit, sein Erbgut in das der menschlichen Immunzellen einzubauen. Und das muß er auch, soll die Impfung wirksam sein. Das verwendete Virus muß sich nämlich rasch und in hoher Zahl vervielfältigen, um die erwünschte Immunantwort hervorzurufen. Es darf sich aber nicht so stark vermehren, daß es die Aids-Symptome auslöst.
Also stehen die Wissenschaftler vor einem Dilemma: “Je sicherer man das Virus macht, desto weniger vermehrt es sich und desto weniger effektiv ist der Impfschutz”, sagt der amerikanische Aids-Forscher Mark Lewis von der Henry M. Jackson Foundation in Rockville.
“Der Lebendimpfstoff ist nicht die Lösung des Aids-Problems”, erklärt denn auch der französische Aids-Forscher Luc Montagnier. Dennoch äußerte sich der Wissenschaftler, der als Entdecker des HI-Virus gilt, zuversichtlich, daß es vielleicht schon in wenigen Jahren einen Impfstoff gegen die Immunschwächekrankheit geben wird. Denn die Wissenschaftler verfolgen weltweit noch zwei andere Strategien: Sie suchen nach viralen Proteinen, die sich zur Impfung eignen. Und im Tierversuch konnten Forscher durch Injektion viraler DNA bereits Immunität aufbauen.
Die erste Erfolgskontrolle eines jeden Impfstoffs erfolgt im Labor: Mediziner nehmen dem Geimpften Blut ab, bringen die von ihm gegen den Impfstoff gebildeten Antikörper im Reagenzglas mit dem Krankheitserreger zusammen und warten die Reaktion ab.
Die Nagelprobe steht dann allerdings noch aus: Dem Geimpften werden die Erreger gespritzt, um zu sehen, ob die Antikörper tatsächlich auch im Körper ihren Dienst tun.
Werden sich die amerikanischen Freiwilligen von IAPAC eines Tages also vollständige Aids-Viren spritzen? Hans-Georg Kräusslich, Virologe am Hamburger Heinrich-Pette-Institut, würde sie dann jedenfalls “endgültig für verrückt erklären”.
Susanne Liedtke