Deutliche Verkürzung der Entwicklungszeiten für neue Pharmaka … erhebliche Verringerung der Entwicklungskosten … eine Goldgräberstimmung, wie sie die Chemie wohl seit der Entstehung der Farbenindustrie im ausgehenden letzten Jahrhundert nicht mehr erlebt hat.” So euphorisch beschreiben in einem Fachartikel BASF-Chemiker um Dr. Friedrich Balkenhohl den Auftritt der “kombinatorischen Synthese” auf der internationalen Chemie-Bühne.
Was die neue kombinatorische Chemie am Chemiker-Alltag ändern wird, sieht Prof. Günther Jung von der Universität Tübingen so: “Der auf diesem Gebiet tätige Chemiker arbeitet nicht mehr mit Dreihalskolben, Rührer, Rückflußkühler, Tropftrichter und Heizpilz.” Damit ist eine Änderung des Berufsbildes verknüpft – ähnlich einschneidend, als würde ein Koch sein gesamtes Arsenal aus Töpfen und Pfannen, Messern und Löffeln einbüßen und statt dessen das fünfgängige Festmenü an der Tastatur eines Synthese-Automaten programmieren.
Mit fröhlichem Positivismus prophezeit denn auch das Magazin “Future” der Hoechst AG: “Es wird ein Chemielabor geben, in dem der Mensch denkt und die Automaten 24 Stunden am Tag für ihn die Arbeit machen.”
Skeptiker wittern nur eine neue Mode dahinter. Doch die Forschungsmanager in der chemischen Industrie nehmen diese neue Technologie, um Pharmawirkstoffe zu finden, durchaus ernst. Für manche steckt gar ein Stück Weltanschauung in der Robot-Chemie: das Vertrauen auf die systematische Unbeirrbarkeit von Maschinen – anstatt allein auf die unkalkulierbare Kreativität von Menschen bauen zu müssen.
Heute “sind wohl sämtliche forschenden Pharmafirmen … auf diesem Gebiet aktiv”, vermutet BASF-Forscher Balkenhohl. Etablierte Chemie-Riesen schlukken derzeit unter hohem Kostenaufwand vergleichsweise kleine, erst wenige Jahre existierende Firmen, die sich auf kombinatorische Chemie spezialisiert hatten. Zwei Beispiele:
1994 kaufte der amerikanische Pharmakonzern Eli Lilly für 72 Millionen Dollar das Kombichemie-Unternehmen Sphinx Pharmaceutical.
Das britische Unternehmen Glaxo Wellcome ließ sich 1995 die Firma Affymax 533 Millionen Dollar kosten.
Einen anderen Weg gehen die Konzerne Bayer und Hoechst Marion Roussel: Anstatt Know-how-Träger zu kaufen, investieren sie im Bereich der kombinatorischen Synthese Millionensummen in Forschungskooperationen.
All diese wirtschaftlichen Aktivitäten gelten einer Methode, die die Regale in den Apotheken bislang noch mit keinem einzigen neuen Medikament gefüllt hat.
“Die kombinatorische Chemie ist für einen solchen Erfolgsnachweis noch zu jung”, meint Prof. Gerhard Quinkert vom Institut für Organische Chemie der Universität Frankfurt: “Der Weg bis zu einem zugelassenen Medikament ist weit.” Doch hinter vorgehaltener Hand raunt man in der Branche bereits von neuen Wirkstoffen.
Dr. Mark Gapinski, Pharmaforscher bei Eli Lilly im englischen Basingstoke, verrät immerhin: “Durch kombinatorische Synthese haben wir die Suche nach aussichtsreichen Substanzen um etliche Monate verkürzt.” Ein so gefundener neuer Arzneimittelwirkstoff sei derzeit in der klinischen Prüfung.
Pharmazeuten und Chemiker der Firma Affymax werden noch konkreter: Ihnen gelang die Synthese einer wirksameren Variante des altbekannten Arzneimittels Captopril – eines Medikaments, das Ärzte schon seit 1977 gegen Bluthochdruck verschreiben. Die Wirkung von Captopril beruht darauf, daß es ein bestimmtes Enzym im Patienten hemmt – das Angiotensin-Konversions-Enzym (ACE). Auf der Suche nach anderen Hemmstoffen nutzten Forscher von Affymax den Weg der kombinatorischen Chemie: Sie stellten aufs Geratewohl 300 Substanzen her, die mit Captopril chemisch verwandt sind – und wurden fündig. Denn darunter war auch ein ACE-Hemmer mit dreimal stärkerer Wirkung als der herkömmliche Arzneistoff.
Das Prinzip hinter der kombinatorischen Chemie ist ebenso simpel wie revolutionär. Im Denken aller Chemiker bestehen die Moleküle organischer Stoffe aus zwei Arten von Atomgruppen: Solchen, an denen Reaktionen mit anderen Stoffen stattfinden, und solchen, die sich an Reaktionen nicht beteiligen. Die erste Art nennen die Chemiker “funktionelle Gruppen”; die zweite heißt, etwas abwertend, “Reste”. Chemisch verwandte Stoffe – etwa Säuren oder Alkohole – haben gleiche funktionelle Gruppen und unterscheiden sich lediglich in den Resten.
Nun die simple Idee: Man läßt eine Vielzahl von Angehörigen einer Substanzfamilie zur gleichen Zeit mit einer Vielzahl von Mitgliedern einer anderen Familie reagieren. Der herkömmliche Weg sieht anders aus: Da stellen Chemiker eine Substanz nach der anderen her, gelenkt von ihrer Erfahrung und ihrer Intuition. Ziel der simultanen Umsetzung bei der kombinatorischen Synthese ist es, in einem einzigen Schritt eine ganze Population von Substanzen zu erzeugen. Auch deren Moleküle sind oft wieder verwandt, besitzen also gleiche funktionelle Gruppen. Trotzdem aber unterscheiden sie sich aufgrund ihrer verschiedenen Reste erheblich.
Eine Analogie verdeutlicht das Prinzip: Würde ein Dieb die richtige Reihenfolge von fünf Zahlen kennen, so könnte er einen Tresor mit Zahlenschloß problemlos öffnen und die Juwelen rauben. Dafür muß er aber bis zu 100 000 Zahlenkombinationen (die zehn möglichen Ziffern von 0 bis 9 lassen sich auf 105 Arten kombinieren) nacheinander durchprobieren, bevor er die richtige findet.
Ebenso entstehen aus der Variation von fünf Resten auf fünf Positionen einer Molekülstruktur 3125 (55) Produkte. Davon ist möglicherweise eines später als Arzneimittelwirkstoff verwendbar. Fertigt ein Forschungslabor alle möglichen Produkte gleichzeitig statt nacheinander, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, in absehbarer Zeit einen Treffer zu landen – der Zufall wird planbar.
Warum der Faktor Zeit nicht nur für den Juwelendieb, sondern auch für die Pharmaindustrie von existentieller Bedeutung ist, erklärt Dr. Eberhard Baumhauer, Geschäftsführer für Forschung und Entwicklung im Verband Forschender Arzneimittelhersteller mit Sitz in Bonn: Zur Zeit kostet die Entwicklung eines einzigen neuen Medikamentes im weltweiten Durchschnitt 500 Millionen Mark. Aber nur die ersten drei in den Markt eingeführten Präparate einer neuen Wirkstoffklasse hätten die Chance, ihre Forschungskosten wieder einzuspielen.
Pharmaforschung ist ein Hochrisikogeschäft. Kein Wunder, daß kühl rechnende Manager da aufhorchen, wenn die kombinatorische Synthese ihnen Zeitgewinn und damit einen Wettbewerbsvorteil verheißt.
Die automatisierte Prüfung von neu synthetisierten Stoffen bewährt sich bereits. Das zeigt etwa ein Blick ins Pharmaforschungszentrum der Bayer AG in Wuppertal. Da rast solch ein Roboter auf einer sechs Meter langen Schiene pausenlos hin und her. Sein Betreuer, Dr. Werner Stürmer, erklärt: “So führen wir zur Zeit im Jahr zwei Millionen pharmakologische Tests durch.” Was diese Maschine zwischen Januar und Dezember erledigt, könnte ein Mensch in seinem ganzen Arbeitsleben nicht bewältigen.
Der Roboter prüft die Wirksamkeit der Test-Substanzen auf Kunststoffplatten, die kleiner sind als ein DIN-A5-Blatt. Jede dieser Platten hat 96 kleine, kreisförmige Vertiefungen. In diesen Mini-Mulden führt der Automat die zu prüfenden Stoffe mit Suspensionen von Zellen oder mit Zellbestandteilen – Enzymen und Rezeptoren – zusammen. Deren Reaktion offenbart, ob die betreffende Prüfsubstanz aussichtsreich scheint oder ein Flop ist.
Mit einem zangenförmigen Greifarm transportiert der Roboter die Testplatte zu den verschiedenen Stationen, die längs seiner Führungsschiene aufgebaut sind. Nachdem die Platte an einigen dieser Haltepunkte mit verschiedenen Reagenzien gefüllt worden ist, legt der Roboter sie in einen von drei großen Heizschränken: Die biologischen Testreaktionen laufen bei Körpertemperatur ab.
Rastlos huscht der Roboter wieder zum anderen Ende seiner Laufschiene und holt sich eine neue Platte. Auch bei gleichzeitiger Bearbeitung von mehr als 100 Stück verliert der Automat nicht die Übersicht: Er identifiziert sie anhand eines Strichcodes. Die Auswertung der Wirkungstests verläuft ebenfalls automatisch. “Die Prüfkapazität unseres Systems kann sogar noch deutlich erhöht werden – etwa durch weitere Miniaturisierung der Reaktionsmulden”, sagt Stürmer.
Den potentiellen Kostenvorteil eines solchen Prüfautomaten bemißt der Bayer-Forscher so: “Rund 50 bis 100 Mark kostet ein Einzeltest bei herkömmlicher Arbeitsweise. Der Automat leistet dasselbe für fünf bis zehn Mark.” Damit sich die Anlage bezahlt macht – ihr Bau kostete mehrere Millionen Mark -, muß freilich der Nachschub mit zu prüfenden Substanzen rund um die Uhr sichergestellt sein. Das war bisher ein Problem, quer durch die Chemie- und Pharmabranche. “Auch ein so großes Unternehmen wie die BASF ist nicht in der Lage, dieses System” – gemeint ist ein Prüf-Roboter – “voll auszulasten”, bekennt Dr. Dieter Jahn, Leiter der Abteilung Biotechnologie beim Ludwigshafener Konzern. Und er zieht den Schluß: “Der technische Fortschritt hat dazu geführt, daß nicht mehr wie früher die biologische Prüfung, sondern die chemische Synthese das Nadelöhr der Wirkstoffsuche ist.”
Der “technische Fortschritt” lag nicht nur in besserer Steuertechnik und Automatisierung, sondern auch im heute stark erweiterten Know-how von Gentechnik und Molekularbiologie. Denn die biologische Wirkung eines Stoffes können die Roboter nur testen, weil molekularbiologische Methoden ihnen diejenigen Zellstrukturen, Enzyme und Rezeptoren bereitstellen, deren Fehlfunktionen die Ursache von Krankheiten sind.
Der Engpaß bei der Herstellung neuer Wirkstoffe bestand bislang darin, daß ein “Chemiker mit zwei Laboranten auf herkömmliche Weise im Jahr 200 bis 250 Substanzen kocht”, so der Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller. Die klassische Vorgehensweise: Zunächst wählt man die gewünschte Zielverbindung. Nach deren Synthese – meistens über eine Reihe von Zwischenprodukten – reinigt man die Substanz. Dann dokumentiert man mit Hilfe von Analysetechniken ihre chemisch-physikalischen Eigenschaften. Danach gibt man sie zur Untersuchung ihrer biologischen Wirkungen frei.
Bis heute gilt ein Chemiker dann als besonders kunstfertig, wenn er einen Stoff über viele Synthesestufen hinweg mit hoher Reinheit und großer Ausbeute herstellen kann. So gesehen, ist jetzt eine Kulturrevolution im Wertesystem des Chemikers im Gange. Denn die kombinatorische Chemie stellt die traditionellen berufsständischen Ideale geradezu auf den Kopf: Was mit ihrer Hilfe so rasch hergestellt werden kann, ist vielfach ein buntes Substanzgemisch.
Hat der Testroboter die Mischung als biologisch wirksam erkannt, so beginnt eine lange und schwierige Suche nach derjenigen Substanz, von der der erwünschte Effekt ausgeht. Trotzdem, davon sind die Kombichemie-Forscher überzeugt, ist die neue Strategie am Ende effektiver. Denn bei ihr wird Zeit nur in die seltenen erfolgversprechenden Substanzen investiert.
Nicht immer jedoch müssen Mischungen am Ende des kombinatorischen Verfahrens stehen. Wenn die erste eingesetzte Substanz an kleinen Harz- oder Kunststoff-Kügelchen verankert und dann Schritt für Schritt den Folgereaktionen ausgesetzt wird, gelingt es, eine Vielzahl von reinen Stoffen parallel herzustellen.
Aber auch bei dieser sogenannten Festphasensynthese müssen die Forscher eine Substanz, die wirksam ist, nachträglich identifizieren. Dazu haben sie “Reportersysteme” entwickelt: Bestimmte Code-Moleküle bezeugen, welche Ausgangssubstanzen sich miteinander verbunden haben. Ein weiterer Vorteil der Festphasen-Synthese: Hier kann besonders leicht und weitgehend automatisiert werden.
Und das nicht nur in der Pharmaindustrie. “Die Perspektiven der kombinatorischen Chemie gehen … über die Wirkstoffsuche hinaus. Wo immer das Auffinden und die Optimierung von Substanzen mit bestimmten Eigenschaften das Ziel ist, wird sich die kombinatorische Synthese einen Platz erobern”, so Dr. Friedrich Balkenhohl von der BASF. Dabei denkt er etwa an neue Farbstoffe, Katalysatoren und Supraleiter.
Das ist High-Tech reinsten Wassers. Und doch greift das neue Verfahren auf ein natürliches Prinzip zurück, betont Prof. Gerhard Quinkert, einer der Vordenker der kombinatorischen Chemie. Quinkert verweist auf die unzählbar vielen unterschiedlichen Eiweißstoffe (Proteine), aus denen die belebte Welt großenteils besteht: “Schließlich ist es der Natur im Verlauf der Evolution gelungen, nach kombinatorischen Prinzipien aus nur 20 Aminosäuren die Fülle der Proteine aufzubauen.”
Frank Frick