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Geistes-Kraft

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Geistes-Kraft
Neurotechnik verbindet Mensch und Computer, Gehirn und Chip. Blind und gelähmt, das muß künftig kein lebenslanges Schicksal mehr sein. Computer setzen schon heute Gedanken in Taten um, Chips auf der Netzhaut sollen Bildsignale ins Gehirn senden, und Neuroprothesen lassen gelähmte Hände wieder greifen.

Zukunftsweisende Forschung braucht kein futuristisches Ambiente. Aber ein Aufzug wäre schon nicht schlecht. Wie hat es der Patient im Rollstuhl nur geschafft, in den dritten Stock zu kommen? Hier im Institut für Medizinische Psychologie der Universität Tübingen hat Prof. Niels Birbaumer eine weltweit führende Methode entwickelt, mit deren Hilfe vollständig Gelähmte, denen nicht einmal mehr ein Augenzwinkern oder Sprechen möglich ist, allein durch ihre Hirnströme wieder mit der Umwelt kommunizieren können.

Normalerweise kommen die Kranken nicht nach Tübingen, sondern die Wissenschaftler reisen zu ihnen nach Hause. Der Patient heute ist eine Ausnahme. Während die Assistentin Slavica Coric dem Patienten Elektroden zur Messung seiner Hirnströme anklebt, erklärt der, warum er aus der Schweiz angereist ist: „Ich möchte die Methode kennenlernen, bevor ich nicht mehr sprechen kann.”

Der kräftige Mann mittleren Alters leidet unter der Amyotrophischen Lateralsklerose, ALS. Das ist eine unheilbare Krankheit, die im Endstadium zur totalen Lähmung führt. Noch kann er wenige Schritte selbst gehen, in den dritten Stock ist er aber nur mit Unterstützung eines weiteren Besuchers gekommen, dessen Mutter ebenfalls an rasch fortschreitender ALS leidet. Gegen Ende können diese Menschen sich nicht mehr bewegen, nicht sprechen, nicht einmal mit den Augen Zeichen geben. Sie müssen beatmet und per Sonde ernährt werden. Das einzige, was dann noch funktioniert, ist ihr Gehirn – doch die Gedanken dringen nicht nach außen. Eine Brücke zur Umwelt soll für sie das Thought Translation Device schaffen, ein „Hilfsmittel zur Gedanken-Übersetzung”.

Vor ein paar Jahren war das Gerät wenig mehr als eine Idee – mittlerweile funktioniert der Gedankenübersetzer. Drei nach der Tübinger Methode trainierte ALS-Patienten können sich wieder mitteilen. Zwei von ihnen schreiben sogar lange Briefe – nur mit dem Gehirn. Der Dritte wählt immerhin Worte aus einem Menü aus. Gleich soll der Mann aus der Schweiz zum ersten Mal versuchen, seine Hirnströme willentlich zu beeinflussen. Diese Fähigkeit, die er erst noch lernen und trainieren muß, wird ihm vielleicht als einzige im Endstadium seiner Krankheit erhalten bleiben. Deshalb will er sich rechtzeitig damit vertraut machen.

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Ein klassisches Elektroenzephalogramm (EEG) zeigt viele überlagerte Frequenzen von Gehirnströmen. Die Patienten müssen versuchen, die Spannungsunterschiede bestimmter Frequenzen gedanklich zu verstärken. Sie können sich zum Beispiel vorstellen, beim Tennis auf den Aufschlag des Gegners zu warten. Diese Erwartungshaltung führt bei vielen Menschen zu verstärkten Ausschlägen der Signale auf der Meßskala nach unten. Entspannung dagegen ruft häufig stärkere Ausschläge nach oben hervor. Thilo Hinterberger, Physiker in Birbaumers Gruppe, sagt: „Geheimrezepte gibt es nicht. Jeder muß seine eigene Strategie entwickeln.”

Der Patient ist vorbereitet, das Training kann beginnen. Begleitet von Piep-Geräuschen bewegt sich ein Ball auf dem Bildschirm von links nach rechts. Der Mann versucht, ihn entweder in ein Tor am oberen oder am unteren Bildschirmrand zu lenken. Wenn er es schafft, seine langsamen Hirnpotentiale durch den Aufbau geistiger Spannung nach unten zu verschieben, springt der Ball nach oben. Werden die Hirnströme entspannter, fällt er nach unten.

Anfangs trifft der Ball häufiger das Tor. Ein lachender Smiley auf dem Bildschirm belohnt den Erfolg. Dann läuft es eine Zeitlang schlechter. Die Strategie, die sich der Patient zurechtgelegt hatte, funktioniert offenbar nicht so gut. Am Ende der Sitzung steigt die Trefferquote aber wieder. Später, wenn er geübter ist, wird er per Gedankensteuerung Buchstaben aus einem Menü auswählen und Texte schreiben können – allerdings sehr langsam. Er kann bisher den Cursor nicht beliebig über eine auf dem Bildschirm abgebildete Tastatur bewegen, sondern nur Ja-Nein-Entscheidungen treffen. Um einen Buchstaben aus den 26 Zeichen des Alphabets auszusuchen, muß er sich fünfmal zwischen zwei Buchstabenblöcken entscheiden, in denen das gewünschte Zeichen vorkommt. Nach der fünften Entscheidung bleibt der gewünschte Buchstabe übrig. Das dauert pro Zeichen etwa eine Minute.

So wertvoll das Thought Translation Device ist – Gedanken lesen kann der Computer nicht. Die Information, die man aus dem Gehirn ableiten kann, ist nur sehr vage, etwa, als ob man bei einer Stehparty vor der geschlossenen Tür steht und lauscht. Man hört, ob viele Leute da sind, ob gelacht und ob Musik gespielt wird. Einzelne Personen zu identifizieren oder gar ihre Worte zu verstehen, ist völlig aussichtslos. Das ist ungefähr die Genauigkeit, mit der die Gedanken der Patienten durch das EEG „ gelesen” werden können.

Der Grund ist, daß mit den am Kopf angebrachten Elektroden bisher nur die Aktivität ganzer Hirnareale aufgezeichnet wird. Eine gezieltere Kommunikation wäre erst dann möglich, wenn man einzelne Gruppen von Nervenzellen herausfiltern könnte. Das geht von außen aber nicht. Und vor einer Öffnung des Schädels und einer Implantation von Elektroden direkt ins Hirn schrecken die Tübinger Wissenschaftler noch zurück.

Wissenschaftler der Universität von Atlanta, USA, haben schon Glaselektroden in das Gehirn von vollständig gelähmten Patienten eingepflanzt, und zwar in eine Region, die für die Steuerung der Hand zuständig ist. Denkt der Patient eine Handbewegung, wird ein Signal ausgelöst, das wiederum den Cursor auf dem Bildschirm steuert. Doch die amerikanischen Patienten können nicht besser kommunizieren als die in Tübingen. Noch keinem ist es gelungen, einen Brief zu schreiben. Immerhin reicht es, um programmierte Sprach-Symbole anzusteuern und Sätze wie „Ich habe Hunger” oder „ Bitte, schalte den Fernseher ein” abzurufen (bild der wissenschaft 5/1999, „Gedacht – getan”).

Die direkte Kommunikation zwischen Hirn und Computer ist für viele ALS-Kranke eine große Hoffnung, die Nachfrage steigt. Doch es ist fraglich, wer das Training in Zukunft bezahlen wird. Die Krankenkassen kommen dafür nicht auf. Die Arbeit des Tübinger Teams hängt allein von Forschungsgeldern ab, und auch Prof. Birbaumer kann nicht sagen, ob die Förderung lange genug dauern wird, um eine marktreife Technik zu entwickeln.

Daß die Kopplung von Mensch und Maschine prinzipiell funktioniert, ist immerhin bewiesen. Gängige implantierte Elektronik ist etwa das Cochlea-Implantat (eine Hörprothese), der Blasenstimulator und der Zwerchfellschrittmacher (siehe Kasten links). Beim Cochlea-Implantat stimulieren implantierte Metallelektroden die Nervenzellen im Innenohr tauber Menschen. Anfangs hören die Patienten zwar nur Rauschen und Knacken. Nach Ablauf einiger Monate aber, wenn sich das Gehirn an das neue Hören gewöhnt hat und das Implantat optimal eingestellt ist, können sie auf einmal Worte verstehen. Fortschritte verzeichnen auch die Forscher, die an einer künstlichen Netzhaut für Blinde arbeiten. Die dafür nötige Elektronik muß aber viel feiner sein als beim Cochlea-Implantat. Um Lichtimpulse aufzunehmen und als sinnvolle Signale ins Gehirn weiterzuleiten, müssen einzelne Nervenzellen oder zumindest kleine Gruppen von Neuronen gezielt aktiviert werden.

Mit den Grundlagen der Kommunikation zwischen toter Elektronik und lebender Zelle beschäftigt sich Prof. Peter Fromherz vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München. Er läßt Nervenzellen auf Siliziumchips wachsen und untersucht, was an der Grenzfläche zwischen Natur und Elektronik vor sich geht. Mittlerweile können seine Chips eine Nervenzelle reizen und umgekehrt auch ihre Aktivität lesen. Er hat bereits eine „ Primitiv-Prothese” gebaut, ein System, bei dem sich das Neuron über den Chip selbst reizt. Die ungleichen Gesprächsteilnehmer unterhalten sich über elektrische Felder miteinander. Weil Fromherz das bei größeren Zellverbänden heute noch nicht gelingt, glaubt er nicht, daß so anspruchsvolle Vorhaben wie das Netzhaut-Implantat schon bald verfügbar sein werden. Auf lange Sicht sieht er dennoch Licht: „Schließlich hoffen wir ja auch, daß unsere Grundlagenforschung am Ende für etwas gut ist.”

Seine Kollegen Prof. Eberhart Zrenner in Tübingen und Prof. Rolf Eckmiller in Bonn haben sich weiter vorgewagt und angekündigt, schon in wenigen Jahren ein fertiges Medizinprodukt – eine künstliche Netzhaut – vorweisen zu können.

Häufige Ursache für Blindheit ist die krankhafte Veränderung der Lichtsinneszellen in der Netzhaut. Das sind die Zellen, die Licht in elektrische Erregung umsetzen und als Informationen über den Sehnerv ins Gehirn schikken. Zrenner will die defekten Lichtsinneszellen ersetzen. Winzige Photodioden sollen auf einem implantierten Chip das Licht in elektrische Impulse umwandeln, Mikroelektroden die Impulse dann an die tiefergelegenen Schichten der Netzhaut und von dort ins Gehirn weiterleiten. Die Bonner Wissenschaftler um Eckmiller verfolgen ein anderes Konzept. Sie zeichnen das Licht mit einem digitalen Photochip außerhalb des Auges auf. Auch die Informationsverarbeitung, die normalerweise in der Netzhaut stattfindet, soll außerhalb des Körpers geschehen – mit Hilfe eines lernfähigen Neurocomputers. Die fertig verarbeiteten Signale werden anschließend an eine ins Auge implantierte Mikrokontaktfolie gesendet.

Winzige Elektroden stimulieren dort die weiterleitenden Nervenzellen. Die Information wandert weiter direkt ins Sehzentrum des Gehirns. Eckmiller und Zrenner sind davon überzeugt, daß das Netzhaut-Implantat grundsätzlich machbar ist. Tierversuche haben schon gezeigt, daß im Gehirn von Katzen mit einer künstlichen Netzhaut Lichtsignale ankommen.

Mit der jetzt zur Verfügung stehenden Technik werden Menschen zwar höchstens schemenhafte Umrisse erkennen. Für manche bedeutet diese Aussicht aber schon viel. Etwa für Helma Gussek aus Bonn: Sie leidet unter Netzhautdegeneration, kann kaum noch etwas sehen und weiß, daß sie in wenigen Jahren ganz blind sein wird.

Sie ist in der Selbsthilfegruppe „Pro Retina” in Bad Nauheim aktiv (Internet: www-aix.gsi.de/~schuell/drpv.html ) und findet: „ Es ist wichtig, einen Anfang zu machen. Das aktuelle Netzhaut-Implantat kann nicht allzuviel bringen, das wissen wir. Aber wenn man langsam erblindet, kennt man ja dieses Stadium, in dem man nur noch wenig gesehen hat. Dieses geringe Sehvermögen ist für jemanden, der einmal richtig sehen konnte, schon sehr, sehr wichtig.”

Für die Entwickler ist das genauso, denn jeder Fortschritt stärkt ihre Zuversicht in das, was eines Tages möglich sein könnte – Netzhaut-Implantate und andere raffinierte Neuroprothesen, neben denen die heutigen Modelle wirken wie der erste Benz von 1886 neben der neuen S-Klasse. 100 Jahre, so viel ist heute schon sicher, werden die Patienten nicht darauf warten müssen.

Carola Hahnisch

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