Die Sächsische Schweiz war, solange ich zurückdenken kann, das beliebteste Ausflugsziel der Dresdner. Groß und Klein ließen sich gern in die bizarre Landschaft mit den abgebrochenen Sandsteinkegeln locken, die Namen wie Pfaffen- oder Lilienstein tragen und zu deren Gipfelplateaus verwunschene Wege führen, die Schwedenlöcher oder Nadelöhr heißen. An einen Schulausflug kann ich mich besonders gut erinnern, zu dem wir mit einem Dampfer der Weißen Flotte von Dresden elbaufwärts bis nach Wehlen gefahren waren und nach einer guten Stunde Fußwanderung durchs Elbtal zur Festung Königstein hinaufstiegen.
Bierdeckel als Flugobjekte: Wir versorgten uns im Gasthaus auf dem Plateau reichlich mit runden Bierdeckeln. Wer weiß, wo nach uns die Gäste noch Bierdeckel als Untersetzer für ihre Gläser gefunden haben! Vom Rundweg aus, der den Felsen auf der Elbseite wie eine Halskrause abschließt, warfen wir die runden Filzscheiben flach aus der Hand mit viel Schwung und, vor allem, viel Drall über die Brüstung ins Tal.
Der Fahrtwind schien den Flug der Scheiben zu bremsen – in Flugrichtung blickend kann man das nicht genau sehen – und ließ die Bierdeckel schon nach kaum zehn Metern seitwärts abkippen. Mit scharfen Augen konnte man sie noch ein paar Sekunden verfolgen, ehe sie tief unten in den Wipfeln der hohen Bäume verschwanden. Deutlich war zu sehen: Rechtshändig geworfene Scheiben kippten nach links, linkshändig geworfene Scheiben nach rechts ab. Niemand war da, der es uns erklärte. Wir nahmen’s einfach als ein Naturgesetz hin, das man sich für alle Fälle merkt, aber nicht zu verstehen braucht.
Viele Jahre später begegneten mir die fliegenden Bierfilze wieder in der Göttinger Experimentalvorlesung bei Robert Wichard Pohl, der das Kippen der rotierenden Scheibe im Großen Physikhörsaal vorführte und durch die “Präzession” eines Kreisels erklärte. Den Schulkindern hätte diese Erklärung nicht viel geholfen. Aber auch der Physikstudent sah sich getäuscht, weil ihm etwas Einfaches, das er mit eigenen Augen sehen und jederzeit leicht wiederholen konnte, durch etwas viel schwerer Begreifliches verständlich gemacht werden sollte.
Kräfte und Drehmomente: Bei ihrem Flug durch die Luft ist die rotierende Scheibe sowohl ein Kreisel als auch ein Tragflügel. Als Kreisel leistet sie Drehmomenten, die ihre Drehachse zu schwenken suchen, um so größeren Widerstand, je rascher sie sich dreht. Als Tragflügel erfährt die Scheibe außer ihrem Gewicht G, das man sich im Schwerpunkt (S) konzentriert denkt, eine mit dem Quadrat der Fluggeschwindigkeit v wachsende und ihr entgegen gerichtete Widerstandskraft W und senkrecht dazu eine Auftriebskraft A von ähnlicher Größe, die die Scheibe hebt, wenn der Fahrtwind (oder der natürliche Wind) sie schräg von unten anbläst.
Die resultierende Luftkraft greift im sogenannten Druckpunkt (P) an und kann in Bezug auf den Auftrieb und Widerstand kein Drehmoment auf die Scheibe ausüben . Da der Druckpunkt bei kleinen Anstellwinkeln a der Scheibe in Flugrichtung vor dem Schwerpunkt liegt – bei einer Vollscheibe deutlich, bei einem Ringflügel nur wenig -, bewirken Gewicht und Luftkräfte gemeinsam ein Drehmoment um die durch den Schwerpunkt verlaufende Querachse, das die Scheibe aufzurichten sucht. Wenn die Scheibe rasch genug um ihre Symmetrieachse rotiert, folgt sie diesem Drehmoment nicht direkt, sondern weicht als Kreisel senkrecht dazu aus. Sie kippt also um die Längsachse, und zwar in dem Drehsinn, in dem sich die Drehachse auf die Achse des Drehmoments zubewegt. An leichten Bierdeckeln sieht man den Effekt am deutlichsten. Sie können es selbst nachprüfen, auch mit quadratischen Bierdeckeln, wenn keine runden zu finden sind. Das Drehmoment wird null, wenn die Scheibenebene sich um 90 Grad bis in die Vertikale gedreht hat. Danach fällt die Scheibe ähnlich einem geworfenen Stein zu Boden und rollt eventuell wie ein Rad weiter. Beim Bierdeckel ist das offensichtlich, beim Frisbee kann es nicht so leicht passieren und ist beim Spiel in der Regel unerwünscht.
Der Weg der Scheibe: Der Schwerpunkt der Scheibe bewege sich in einer Vertikalebene mit der Bahngeschwindigkeit v unter dem Winkel φ gegen die Horizontalrichtung. Ausgedrückt durch die Weglänge s und die Zeit t ist v = ds/dt; dφ/ds ist die Krümmung der Bahnkurve und ihr reziproker Betrag der Krümmungsradius R=|ds/dφ|. Der Anstellwinkel β der Scheibenfläche gegen die Horizontale (beziehungsweise der Kreiselachse gegen die Vertikale) wird durch rasche Drehung der Scheibe im Raum stabilisiert und ändert sich so langsam, daß wir ihn vorerst als konstant ansehen, während sich der für die Aerodynamik der Scheibe maßgebliche Anstellwinkel a gegen die Anströmung der Luft mit dem Flugwinkel φ ändert: α = β -φ.
Der Flug der Scheibe wird von der Gewichtskraft G = mg (mit der Masse m und der Schwerebeschleunigung g) senkrecht nach unten, der Widerstandskraft W = cW(α)(ρv2/2)F in Windrichtung und dem Auftrieb A = cA(α)(ρv2/2)F senkrecht dazu gesteuert (ρ Luftdichte, ρv2/2 “Staudruck”, F Fläche der Scheibe; der Auftriebsbeiwert cA und der Widerstandsbeiwert cW sind für die Scheibe charakteristische Funktionen des Anstellwinkels α, die im Windkanal gemessen werden können).
Die Newtonschen Gleichungen für die Bahnbeschleunigung dv/dt und für die Zentripetalbeschleunigung v2dφ/ds senkrecht zur Flugbahn lauten mdv/dt = – mgsinφ – W mv2dφ/ds = – mgcosφ + A.
Auf die Bogenlänge s bezogen lassen sie sich in sehr einfacher Form schreiben: (1/v)(dv/ds) = -gsinφ/v2 – cW(α)/l dφ/ds = -gcosφ/v2 + cA(α)/l
Darin ist l = 2m/ρF eine für jede Scheibe typische Länge von der Größenordnung einiger Meter. Ohne diese Gleichungen numerisch zu lösen, können wir aus ihnen einfache Schlüsse ziehen. Daß die Scheibe beim Aufstieg (φ > 0) von ihrem Gewicht verzögert und beim Abstieg (φ 0) beschleunigt wird, ist selbstverständlich, ebenso daß der Luftwiderstand sie ständig bremst, abhängig vom Anstellwinkel α. Die Bahn krümmt sich unter dem Gewicht nach unten (dφ/ds 0), aber der Auftrieb wirkt dem entgegen und verlängert dadurch den Flug. Wenn sich die Orientierung β der Scheibenfläche im Raum wenig ändert, wächst der Anstellwinkel a mit kleiner werdendem Bahnwinkel φund bestimmt den Auftrieb und den Widerstand nach Maßgabe der Beiwerte cA und cW. Anders als ein geworfener Ball können daher Bierdeckel oder Frisbeescheibe in der Luft drehend für einen Augenblick zum Stehen kommen und vom Wendepunkt aus je nach ihrer Orientierung im Raum möglicherweise sogar ein Stück zurückgleiten.
Das Kippen der Scheibe: Während der Schwerpunkt eine vom Abwurf und von den Kräften (Gewicht, Auftrieb und Widerstand) bestimmte Bahn beschreibt, dreht sich die Flugscheibe, gesteuert vom Drehmoment der Luftkräfte, als Kreisel um den Schwerpunkt. Bezeichnen C das Trägheitsmoment der Scheibe um die zu ihrer Ebene senkrechte Achse durch den Schwerpunkt undωdie Winkelgeschwindigkeit der Drehung, so ist D = Cω der Eigendrehimpuls (“Spin”) des Kreisels. Bei “schnellen” Kreiseln überwiegt er die anderen Drehimpulskomponenten um ein Vielfaches und ist in guter Näherung gleich dem Gesamtdrehimpuls.
Für das Abkippen zur Seite, das insbesondere bei leichten Bierdeckeln beobachtet wird, ist das Drehmoment um die Querachse durch den Schwerpunkt der Scheibe maßgebend, M=pcR(α)(ρv2/2)F, das vom Abstand p des Druckpunkts (P) vor dem Schwerpunkt (S) als “Hebelarm” abhängt (cR = cAcosα + cWsinα leitet sich von den Beiwerten der Luftkräfte ab). Unter der Wirkung des Drehmoments M präzediert die Scheibe mit der Winkelgeschwindigkeit dψ/dt = M/D. Dabei bilden die Achsen des Drehimpulses, des Drehmoments und der Winkelgeschwindigkeit der Präzession als Rechtsschrauben ein rechtshändiges Dreibein (Daumen = Drehimpuls D, Zeigefinger = Drehmoment M, Mittelfinger = Winkelgeschwindigkeit dψ/dt). In der Kreiseltheorie wird der Sachverhalt durch ein Vektorprodukt dargestellt. Mehr als an der Zeitabhängigkeit liegt uns an der Wegabhängigkeit des Kipp- oder Rollwinkelsψ, die sich nach Ersetzen von M und D durch die obigen Formeln und Division durch die Geschwindigkeit v ergibt: dψ/ds = (p/l)(m/C)(v/ω)cR(α).
Der Einfluß einiger Parameter läßt sich unmittelbar erkennen. Um das Kippen einer Scheibe zu verzögern, ist es gut, p so klein wie möglich zu machen (wie bei einem Aerobee-Flugring) oder C/m möglichst groß (wie bei einem Frisbee mit heruntergebogenem, verdicktem Rand). Kennt man die Werte der Parameter v, ψ und cR nicht genau, sind quantitative Abschätzungen unsicher. Nehmen wir an, daß ein Bierdeckel (Masse m = 6,5 g, Durchmesser 2r = 10,7 cm, Trägheitsmoment C/m = r2/2 = 14,4 cm2, Druckpunktsabstand p = r/2 = 2,7 cm) unter einem kleinen Anstellwinkel a, für den cR = 0,1 ist, so abgeworfen werde, daß er quasi “aus der Hand rollt”: v/ω~ r. Für diesen Fall ergibt sich dψ/ds ~ 6 Grad/m. Nach 5 bis 10 Metern Flug kippt der Bierdeckel ab. Für Frisbee und Aerobee ist die entsprechende Winkelgeschwindigkeit um mehr als eine Zehnerpotenz kleiner. Sie können ihre Lage im Raum sehr viel länger behalten und eignen sich daher besser zum Spiel.
Wolfgang Bürger