Die Deutschen sind arm an Visionen, heißt es. Schon allein daran gemessen ist der Brockhaus-Redaktion mit dem fast drei Pfund schweren Buch „Visionen 2000 – Einhundert persönliche Zukunftsentwürfe” ein großer Wurf gelungen. Denn die darin stets auf vier Seiten zu Wort kommenden Prominenten haben es in der Tat fast alle geschafft, das vor uns Liegende aus ihrem Blickwinkel zu formulieren und zu kommentieren. Auch ein gutes Dutzend Wissenschaftler geben in dem Buch ihre Wünsche, Ängste und Hoffnungen preis. Hubert Markl etwa, Zoologe und Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, fürchtet im kommenden Jahrhundert mehr denn je, daß Parasiten und Krankheitserreger gegen die Fleischfestung Mensch anstürmen werden. Damit nicht genug. Auch einen steigenden Sozialparasitismus sieht er auf uns zukommen – ein starkes Ansteigen der räuberischen Ausbeutung von sozialen Systemen, die engagierte Menschen einstmals zum Wohle der Gemeinschaft geschaffen haben. Der Astrophysiker Rudolf Kippenhahn bleibt dagegen mit seinen Visionen bodenständiger, wenngleich auch nicht auf der Erde: „Die Sterne, vor allem die Sonne, werden uns immer mehr als Laboratorien dienen, die uns dort helfen, wo die Kunst des Experimentators auf der Erde versagt.” Ein anderer Wissenschaftler, der Archäologe Eberhard Zangger, sieht seine Disziplin vor einer wahrhaft epochalen Veränderung: Künftige Archäologen werden weit weniger Geisteswissenschaftler sein als Naturwissenschaftler und Ingenieure. Und der Experte für Künstliche Intelligenz Wolfgang Wahlster erklärt, daß wir bald von einem digitalen Assistenten begleitet werden, dem wir sagen oder über Gesten klarmachen, was wir etwa im Internet suchen – und der es dann auch findet oder uns simultan das übersetzt, was der Telefonteilnehmer vom anderen Ende der Welt von sich gibt. So schlaglichtartig diese Statements sind: Sie zeigen, welche Spannbreite die in dem Buch wiedergegeben Visionen haben. Neben Wissenschaftlern sind die Autoren vor allem Journalisten, Unternehmer, Künstler, Politiker: der Verpakkungskünstler Christo, der Anfang 1999 verstorbene Intendant August Everding, die Bischöfin Maria Jepsen, der Edelkoch Eckart Witzigmann, der Motorsportchef Norbert Haug, die Modeschöpferin Jil Sander – auch die stets präsenten Lothar Späth und Heiner Geißler fehlen nicht. Wer dieses Buch liest, muß sich durch erfreulich wenige leere Floskeln kämpfen. Nach vier Seiten kommt der nächste Herr, die nächste Frau zu Wort. Das bedeutet weit mehr Information und Inhalt über Visionen, als ein Einzelautor vermitteln könnte. Da die Autoren nicht aufeinander Bezug nehmen, ist das Buch zudem eine Ideallektüre für Leute, die meist schon nach ein paar Seiten den Umschlagdeckel zuklappen. Auch dann haben sie noch ihren Spaß: Die Nullen auf dem Umschlag sind ausgestanzt. Das verführt, mit den Fingern in die Löcher zu greifen – und schon ist das Buch wieder aufgeklappt. Brockhaus Redaktion (Hrsg.) VISIONEN 2000 Einhundert persönliche Zukunftsentwürfe Brockhaus Mannheim 1999 415 S., DM 75,–
Wolfgang Hess