Große Chancen gab Jonathan Losos seinen Kriechtieren nicht. Der amerikanische Zoologe hatte 1977 mehrere Kleinleguane der Art Anolis sagrei auf der Bahama-Insel Staniel Cay gefangen, um sie auf einigen anderen, von Anolis unbewohnten, kargen Inseln auszusetzen. Er führte dabei anfangs Übles im Schilde. Losos war nämlich neugierig, wie lange sich die Kolonisten wohl in ihrer neuen Heimat würden halten können. Er erwartete, daß sie auf den anolisfeindlichen Eilanden über kurz oder lang wieder aussterben würden. Mit seinem Freilandversuch wollte Losos die Bedrohung kleiner Tierbestände durch Aussterben erforschen. Doch die schmucken Echsen spielten nicht mit. Statt auszusterben, bewiesen sie Durchhaltevermögen. Die Kriechtier-Kolonisten vermehrten sich nicht nur – sie entwickelten sich sogar zu wahren Rennern der Evolution. Nicht einmal zwei Jahrzehnte später bemerkten die Biologen, daß sie mit ihrem Experiment die Arbeitsweise der natürlichen Selektion nachgeahmt hatten. Die Aussterbe-Studie der Anolis geriet zum Modellfall für Evolution in Aktion. Während die Anolis auf ihrer Ursprungsinsel Staniel Cay in Bäumen und Büschen leben, waren die Lebensumstände in ihrer neuen Heimat eher unwirtlich. Dort wuchs nur sehr niedrige, baumlose Vegetation. Doch die Leguane behaupteten sich in dem neuen vegetationsarmen Lebensraum. Nur: Ihren Nachkommen wuchsen zunehmend kürzere Beine. Mit kurzen Beinen, so wußten Forscher aus anderen Studien, können Anolis besser im dünnen Gezweig spärlicher Sträucher balancieren als ihre langbeinigen Artgenossen. Mit langen Hinterbeinen dagegen kommen die karibischen Kletterkünstler besser auf dickeren Ästen und Baumstämmen voran.
Als Faustregel gilt: Je spärlicher die Vegetation ist, desto kürzer sind auch die Beine der dort lebenden Kleinleguane. Dieses Prinzip konnten Forscher mittlerweile an zahlreichen Anolisarten der Karibik nachweisen. Nie zuvor hatten sie jedoch direkt beobachten können, in welch kurzem Zeitraum solche körperbaulichen Anpassungen an eine neue Umwelt ablaufen. Eine derart rasche Veränderung typischer Merkmale ist für Evolutionsforscher sensationell – und für die Biologie wegweisend: „Wir können jetzt durch direkte Beobachtung in der Natur viele der zuvor nur vermuteten Muster der Evolution feststellen”, meint Losos. „Damit wird Evolution nachweisbar.” Als die britischen Naturforscher Charles Darwin und Alfred Russel Wallace vor mehr als 100 Jahren die Theorie der Evolution durch natürliche Auslese vorstellten, stießen sie bei ihren Zeitgenossen auf Ablehnung. Einer der Gründe: Die Entwicklung neuer Lebensformen mit veränderten Verhaltensweisen und anderem Aussehen ließ sich nicht in Aktion beobachten. Selbst Fachleuten gilt die Entwicklung der Organismen bis heute als ein historischer Prozeß – und als solcher sei er nicht reproduzierbar, meinen viele. Die Überprüfbarkeit durch Experimente ist aber ein wichtiges Kriterium in der Wissenschaft. Da es keine Überprüfung gab, stand die Evolutionstheorie lange in Frage.
Jetzt mehren sich die Beispiele, bei denen Biologen zu Augenzeugen der Evolution werden. Wenn sich beispielsweise demnächst das Weltklima ändert, sind wenigstens die bei uns heimischen Mönchsgrasmücken vorbereitet. Diese kleinen, eher unscheinbaren Singvögel verbrachten früher den kalten, nahrungsarmen Winter stets in wärmeren Gefilden rund um das Mittelmeer. Inzwischen ändern sie ihre Zugstrategie. Viele fliegen nicht mehr nach Spanien oder Italien, sondern wandern Richtung Westen ins südliche England ab. Dort, rund 1500 Kilometer weiter nördlich als ihre Artgenossen, verbringen sie die zunehmend milden Winter am reich gedeckten Tisch der vielen Futterhäuser, die vogelliebende Briten ihnen anbieten. Die jeweilige Zugstrategie lernen die Jungvögel nicht von ihren Eltern – sie erben sie über ihre Gene. Je mehr der nach England fliegenden „Mönche” den Winter dort überleben, desto mehr ihrer Nachkommen ziehen in den kommenden Jahren ebenfalls nach Westen statt wie früher nach Süden. Die neue Zugroute, die derzeit bereits von mehr als elf Prozent der mitteleuropäischen Mönchsgrasmücken genutzt wird, ist in weniger als 30 Jahren entstanden. Durch Zuchtexperimente fand der deutsche Vogelforscher Peter Berthold vom Max-Planck-Institut in Seewiesen außerdem heraus, daß sich das Zugverhalten der Mönchsgrasmükken bereits innerhalb von vier bis sechs Generationen umstellen läßt. Vielleicht ändern auch andere Zugvögel bald ihr ererbtes Flugprogramm. Buchfink, Heckenbraunelle und Rotkehlchen könnten dann bei uns bleiben, wenn die Winter milder werden. Anstatt den anstrengenden und gefährlichen Weg ins afrikanische Winterquartier anzutreten, könnten Schwalbe, Star und Storch immer mehr zu Standvögeln werden. Bereits heute beobachten Vogelkundler, daß im Herbst viele Zugvogelarten immer später in ihre Winterquartiere abziehen. Systematische Langzeitkontrollen zeigen, daß sich die Abflug- und Ankunftsdaten vieler heimischer Zugvögel in den letzten 20 Jahren kontinuierlich geändert haben. Viele der heimischen Singvögel verspäten sich bei ihrer Abreise ins Winterquartier mittlerweile um bis zu zehn Tagen gegenüber den mittleren Wegzugterminen, die noch Anfang der siebziger Jahre galten. Sie passen sich damit dem inzwischen späteren Herbsteintritt an – für Peter Berthold ein weiterer Beleg, daß die Evolution des Vogelzuges schneller vor sich geht, als man lange angenommen hat.
Offenbar steckt auch in den Erbanlagen vieler anderer Tierarten ein enormes, von Zoologen bislang eher unterschätztes Evolutionspotential. Bei plötzlicher Umweltänderung, wie sie ein Klimaumschwung mit sich bringt, vermögen die Lebewesen auf diese Weise schnell und flexibel zu reagieren. Den Beleg liefern einmal mehr die nach Darwin benannten Finken auf dem Galapagos-Archipel im Ostpazifik. Diese Tiere haben viele Wissenschaftler intensiv untersucht. Sie sind inzwischen zum Paradebeispiel für evolutionsbiologische Phänomene geworden. Wieder einmal machten sie ihrem Namensgeber nun alle Ehre, als sie innerhalb nur weniger Jahre ihre Schnäbel gleichsam vor den Augen der Forscher veränderten. Nachdem die Galagapos-Inseln in den achtziger Jahren von mehreren Dürrezeiten durch das Klimaphänomen El Niño heimgesucht wurden, überlebten plötzlich Finken mit kleinen Schnäbeln eher als solche mit großen. Denn während der Trockenzeit gab es kleine Samen sehr viel häufiger als große. Weil viele der Finkenarten auf große Samen als Nahrung spezialisiert sind, machten sie sich auch erheblich mehr Konkurrenz. Die Nahrung der kleinschnäbeligen Finken dagegen wurde nicht so schnell knapp. Folglich überlebten mehr dieser Vögel den ökologischen Engpaß. Da Merkmale wie Schnabelgröße erblich sind, gaben die Überlebenden ihren Schnabelbau an die nächste Generation weiter. Das Ergebnis: In den Jahren nach der Dürre – und damit in kürzester Zeit – hatte die Evolution der Darwinfinken eine neue Richtung bekommen. Auch die rund 300 Buntbarscharten des Viktoria-Sees in Ostafrika sind durch extrem beschleunigte Evolution entstanden. Neue Arten bildeten sich hier offenbar wie im Zeitraffer und sorgten für einen Rekord. Als Geologen kürzlich die Sedimente dieses Gewässers untersuchten, entdeckten sie, daß es diesen heute rund 70 Meter tiefen See vor 12000 Jahren nicht gab. An Pollenfunden erkannten sie, daß auf dem, was heute der Seegrund ist, damals nur Büsche und Gräser wuchsen, die an Trokkenheit angepaßt waren. Nachdem sich das Becken mit Wasser füllte, wanderten Fluß-Buntbarsche in den See ein und fanden einen neuen, vielfältigen Lebensraum. Sie paßten sich ihm ebenso vielfältig an und bildeten die heutige Artenvielfalt. Diese rasante Evolution der ostafrikanischen Buntbarsche gilt derzeit als die schnellste Artenbildung im Tierreich – schneller als Biologen seit Darwin es sich jemals hätten vorstellen können.
Wie stürmisch die Natur dabei sein kann, belegen einfache Evolutions-Experimente bei Süßwasserfischen auf der Karibikinsel Trinidad. An ihnen beobachteten Forscher, wie sich in einer Art „ evolutionärem Abrüsten” die Überlebensstrategie ändert, sobald sich die Fische nicht mehr vor Räubern hüten mußten. Auf Trinidad leben kleine Guppys der Art Poecilia reticulata. Ihre Heimatgewässer sind die Unterläufe von Flüssen, die durch Wasserfälle von ihren Oberläufen abgeschnitten sind. Unterhalb dieser Fälle jagen die räuberischen Buntbarsche und andere Raubfische. Sie haben Guppys zum Fressen gern: Um ihnen zu entkommen, wurden die Fische klein und schnell. Dann kamen die Forscher: Ein amerikanisches Team um David Reznick setzte Anfang der achtziger Jahre in zwei Flüssen auf Trinidad einige dieser Guppys in die Oberläufe, in denen bis dahin weder Guppys noch Raubfische lebten. Die Folge für die Guppys war ein Leben ohne Freßfeinde – die kleinen Fische fanden sich unvermittelt in einer für sie paradiesischen Umwelt wieder. Die Versuchsfische reagierten innerhalb von nur wenigen Jahren mit einer veränderten Lebensstrategie. Während sich die Guppys in der Gefahrenzone unterhalb der Wasserfälle mit Wachstum und Fortpflanzung beeilen mußten, um nicht gefressen zu werden, bevor sie ihre Gene an die nächste Generation weitergeben konnten, legten sich ihre streßfrei lebenden Artgenossen eine gemächlichere Lebensweise zu.
Sie lebten nicht nur deutlich länger und wurden größer, sie paarten sich auch meist später und zeugten weniger Nachwuchs als ihre von Räubern verfolgten Artgenossen. Diese können die natürlichen Verluste durch Feinde nur ausgleichen, indem sie sehr schnell heranwachsen, sich früh vermehren und dabei möglichst oft sehr viele Nachkommen zeugen. Oberhalb der Fälle wurden die Männchen bereits nach vier Jahren älter und größer. Die Weibchen brauchten noch einige Jahre, bis auch sie ihre Strategie allmählich umstellten. Nach insgesamt 11 Jahren – oder 18 Guppy-Generationen – waren sowohl Männchen als auch Weibchen bei der Paarung deutlich größer und älter als ihre gefährlich lebenden Artgenossen unterhalb der Wasserfälle. Räuber stellen also einen Umweltdruck dar, auf den Fische innerhalb weniger Generationen zu reagieren vermögen. Inzwischen wissen Biologen, daß sie derart schnelle evolutionäre Antworten vor allem bei kleinen Populationen bekommen. Auch bei den Anolis der Insel Staniel Cay war die geringe Anzahl an Umgesiedelten ein wichtiger Faktor, um die Evolution zu beschleunigen. Das Team um Losos hatte nur jeweils fünf bis zehn Tiere ausgesetzt. In solch kleinen Populationen setzen sich genetische Veränderungen deutlich schneller durch als in einem großen Bestand, wo neue körperbauliche Trends bald wieder in der „trägen Masse” des gesamten Genpools aufgefangen werden.
Die Experimente mit Anolis erklären auch, warum es auf den Karibischen Inseln so viele Arten dieser schlanken und agilen Leguane gibt. Reptilienkundler kennen inzwischen etwa 150 Arten von Anolis. Allein auf Kuba, der größten Insel, tummeln sich 42 Formen. Jede einzelne Art unterscheidet sich von den anderen darin, wie sie einen bestimmten Ausschnitt ihrer Inselumwelt nutzt. Manche leben zum Beispiel in Baumkronen, andere in Felsspalten. Manche fressen kleine Insekten, andere Jungvögel. Zoologen interessieren sich schon lange dafür, wie diese Vielfalt an Anolis-Arten entstehen konnte. Die schnelle körperbauliche Anpassung durch genetische Veränderungen, die Jonathan Losos unbeabsichtigt beobachtete, könnte beim Prozeß der Artenbildung die entscheidende Rolle gespielt haben. Von einer Generation zur nächsten änderte sich der Körperbau kaum merklich, aber er ermöglichte es den Nachkommen, sich ein klein bißchen besser in den ungewohnten Sträuchern zu bewegen oder neue Beute zu jagen. Langfristig überlebten vor allem die besser an die neue Umwelt angepaßten Tiere – eine strenge natürliche Auslese, die schließlich zu neuen Tierarten führte, die ihren ursprünglichen Vorfahren nur noch wenig ähnelten. Nicht nur bei Leguanen, sondern auch bei Fischen und Finken bestimmt die Umwelt das Sein. Zoologen suchen nun verstärkt nach weiteren Modellen evolutionärer Anpassung und flexibler ökologischer Antworten. Mehr als ein Jahrhundert nach Charles Darwin haben sie gelernt, der Evolution mit Beobachtungen und Experimenten über die Schulter zu schauen.
Matthias Glaubrecht