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Es klingelt im Gehirn

Allgemein

Es klingelt im Gehirn

Martin Luther war unsicher, ob er das Donnern, das er ständig in seinem Kopf vernahm, auf den Wein oder den Satan schieben sollte. Heute wäre die Diagnose eindeutig: Der Reformator litt an Tinnitus, einem Krachen, Pfeifen und Rumpeln, das nur in seiner Wahrnehmung existierte. Als Auslöser einer akuten Lärmattacke kommt beispielsweise ein lauter Knall in Ohrnähe, ein Hörsturz oder andauernder Krach in Frage. Aber auch Schwerhörigkeit, Kopfschmerzen oder Verspannungen im Hals oder Nacken können den Lärm verursachen. Falls das Ohrgeklingel länger als einen Tag andauert, empfiehlt die Deutsche Tinnitus-Liga, einen HNO-Arzt aufzusuchen. Er kann mit gefäßerweiternden Mitteln oder Sauerstofftherapie dabei helfen, daß der Lärm zurückgeht. Zwar verschwindet der akute Tinnitus auch ohne Behandlung häufig, doch in Deutschland geben fast anderthalb Millionen Menschen an, daß der Krach im Ohr bei ihnen chronisch geworden ist. Bei der Ursachenforschung hat sich in den letzten Jahren die Lehrmeinung extrem gewandelt. Früher galt das Innenohr als die eigentliche Quelle der quälenden Töne. Die dort sitzenden Sinneszellen sollten permanent übererregt sein. Mittlerweile ist jedoch der Beweis erbracht: Chronischer Tinnitus entsteht im Gehirn. Als Wissenschaftler am Institut für Zoologie der TU Darmstadt bei Mäusen experimentell einen Tinnitus auslösten, waren sie vom Effekt überrascht: das Hörzentrum in der Großhirnrinde der Mäuse arbeitete hektischer als vorher. Dafür war im Innenohr Ruhe eingekehrt. Hierzu passen ältere Befunde bei Patienten, denen wegen eines unerträglichen Tinnitus der Hörnerv durchtrennt wurde: Die Beschwerden gingen dadurch nicht zurück. Laut Jonathan Hazell, einem führenden Tinnitus-Experten aus London, empfinden nur 15 Prozent der Menschen mit chronischen Ohrgeräuschen diese als störend und leiden unter ihnen. Der große Rest kann relativ problemlos damit leben. Der Wissenschaftler vergleicht das mit dem lauten Fernseher des Nachbarn: Ist der Nachbar ein Freund, stören uns die Töne weniger, als wenn wir sowieso schon „Krach” miteinander haben. Die modernen Therapieformen gegen chronischen Tinnitus setzen daher vor allem darauf, die Wahrnehmungsbereitschaft für das Ohrklingeln zu senken. Der Psychologe Dr. Gerhard Goebel ist in Deutschland einer der Pioniere dieses „Tinnitus-Retrainings”. Seine Patienten lernen, sich an ihre Ohrgeräusche zu gewöhnen, sie nicht mehr als störend und bedrohlich zu empfinden. Sie sollen alte Verhaltensmuster im Gehirn löschen, die bisher die Aufmerksamkeit ohne Unterlaß auf den Tinnitus gelenkt haben. Das Ohrgeräusch soll schließlich zu einer Art freundlichem Nachbarn werden, dessen etwas lauteren Fernsehton man akzeptiert und vielleicht bald gar nicht mehr beachtet.

Dr. Ulrich Fricke

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