Aus der Sprechanlage auf dem Schreibtisch von Werner Hacke kommen Worte, die wie ein Geheimcode klingen. Er aber versteht: “Ist gut. Ich komme.” Der Professor für Neurologie wirft im Gehen einen weißen Kittel über und steuert die Schlaganfall-Station an. Dort wurde soeben ein neuer Patient eingeliefert. Die Spezialstation mit acht Betten gibt es an der Universität Heidelberg seit April 1998. Im Durchschnitt dreimal täglich bringen Rettungssanitäter Menschen, die der Schlag getroffen hat, in die Klinik.
Dort wartet ein 59jähriger Patient. Die Fassungslosigkeit über das Ereignis steht ihm noch ins Gesicht geschrieben: “Es war nachts um eins. Ich mußte noch einmal raus. Aber ich konnte einfach nicht mehr aufstehen. Mein rechter Arm, mein rechtes Bein – völlig schlapp”, berichtet er. “Ich zog mich dann doch hoch, tastete mich an der Wand entlang, hüpfte ins Bad und robbte danach aufs Sofa im Wohnzimmer, um meine Frau nicht zu stören. Am Morgen, als es mir nicht besser ging, haben wir den Rettungswagen gerufen.”
“Später, als gut gewesen wäre”, kommentiert Hacke. “So verstreichen wertvolle Stunden. Dabei ist ganz wichtig: Wer plötzlich eine Lähmung spürt mit Betonung auf einer Körperseite, vielleicht auch Probleme mit dem Sprechen hat, sollte sofort den Notarzt rufen. Halbseitige Lähmung ist das deutlichste Symptom eines Schlaganfalls. Und wenn sich der Verdacht bestätigt, zählt jede Minute, wie beim Herzinfarkt. Da würde auch niemand warten.”
Die rasche und richtige Versorgung nach dem Schlag senkt die Sterblichkeit um 30 Prozent. Auch schwere Behinderungen bleiben dann wesentlich seltener zurück. Seit kurzem sollen bundesweit über das Land verteilte Spezialeinheiten diese Erkenntnis in die Praxis umsetzen, sogenannte Stroke Units, die rund um die Uhr mit speziell ausgebildetem Personal und Geräten für die Diagnostik ausgestattet sind (siehe “Fokus Schlaganfall”, nächste Seite).
Der Hirnschlag ist der neurologische Bruder des Herzinfarktes. Durchblutungsstörungen sind für beide die häufigste Ursache. Bekommen die Gewebe nicht genug Sauerstoff, sterben die Zellen. Die Mediziner unterscheiden grundsätzlich zwei Formen des Hirnschlags: Bei dem einen entsteht die Mangeldurchblutung durch arteriosklerotische Ablagerungen in Arterien im Gehirn oder in den dorthin führenden Gefäßen. Die Ablagerungen verengen die Adern, und an den Engpässen bilden sich zusätzlich kleine Blutpfropfe (Thromben), die mit dem Blutstrom ins Gehirn geschwemmt werden und dort die Gefäße verstopfen können.
Bei der anderen Form des Hirnschlages platzt eine vorgeschädigte Ader. Das Blut erreicht bestimmte Gehirnregionen nicht mehr. Zudem sickert es in die Umgebung und gerinnt. Je größer das Gerinnsel, desto stärker wird der Druck auf das Gewebe in der Nachbarschaft, was zusätzliche Schäden verursacht.
Pfropf oder Blutung – das ist die entscheidende Frage bei der Therapie des Apoplex, wie der Schlaganfall in der Fachsprache heißt. Einen Pfropf kann man mit gerinnungslösenden Medikamenten aufzulösen versuchen. Bei einer geplatzten Ader wäre das fatal und würde die Blutung nur verstärken.
In diesem Fall muß man möglichst rasch operieren. “Das Leben des Patienten zu retten, hat zunächst absoluten Vorrang”, sagt Hacke. “Dann versuchen wir zu vermeiden, daß sich der Infarkt ausbreitet. Wir wollen jene Regionen im Gehirn vor dem Untergang bewahren, die durch den Sauerstoffmangel beeinträchtigt, aber noch nicht unumkehrbar geschädigt sind.”
Sind Nervenzellen völlig von der Sauerstoffversorgung abgeschnürt, sterben sie in Minuten. Im Kern eines Infarktgebietes sind Neurone deshalb unwiederbringlich verloren. In seiner direkten Umgebung aber liegen Areale, die noch erholungsfähig sind. Penumbra (lateinisch: Halbschatten) wird diese Randzone des Infarktes genannt.
Die Penumbra möglichst klein zu halten, ist ein Wettlauf mit der Zeit. Vorübergehend versorgt das angrenzende Adernetz sie teilweise noch von außen mit Sauerstoff. Die Blutgefäße können, je nach Dichte und Dicke, die Penumbra für Stunden, sehr selten auch für ein, zwei Tage vor dem Tod bewahren. Aber auch die abrupte Wiederdurchblutung von geschwächtem Gewebe bedeutet Streß für die Zellen und kann sie in den Untergang treiben. Deshalb müssen Blutpfropfen vorsichtig gelöst werden. Die Thrombolyse kann einem Patienten nach neuesten Studien bis maximal sechs Stunden nach dem Schlag helfen. Besser wäre, sie würde innerhalb von drei Stunden eingeleitet.
Das Zeitfenster ist also schmal, auch für andere Eingriffe. Bei arteriosklerotischen Ablagerungen der Halsschlagader, die die Blutzufuhr ins Gehirn behindern, öffnen spezialisierte Gefäßchirurgen die Arterie, schälen deren innere Schicht samt Plaques ab und nähen sie wieder zusammen. “Das erfordert jedoch viel Erfahrung, wenn man schwere Komplikationen wie Embolien oder Verletzungen von Gesichtsnerven vermeiden will”, sagt Dr. Mario Siebler, der die Stroke Unit an der Universitätsklinik Düsseldorf leitet. “Das ist keineswegs überall Routine.”
Andere Kliniken öffnen eine blokkierte Halsschlagader, indem sie diese von innen schienen, also einen Stent einlegen, ein Röhrchen aus Kunststoff. Ob diese Methode genau so gut ist wie die operative Öffnung der Arterie, wurde auf dem letzten deutschen Chirurgenkongreß in München heftig und ohne eindeutiges Ergebnis debattiert.
Zwei weitere neue Verfahren, mit denen Experten Schlaganfallpatienten das Leben retten können, sind die Öffnung des Schädels (Kraniektomie) und die Unterkühlung (Hypothermie).
Bei großen Hirninfarkten sammelt sich zwischen den grauen Zellen manchmal viel Zellwasser an. Das Hirn schwillt und drückt gegen die Schädeldecke. Das kann tödlich sein, vor allem, wenn der Hirnstamm abgeklemmt wird, der die Atmung reguliert. Wird der Druck zu stark, sägen die Heidelberger Neurochirurgen ein handtellergroßes Stück aus der Schädeldecke heraus und verschließen das Loch allein mit der Kopfhaut. Die kann nun bei Druck nachgeben. Geht die Schwellung zurück, wird dem Kranken die Knochenplatte wieder eingesetzt. “Wir haben bislang knapp 100 solcher Eingriffe gemacht”, erläutert Hacke, “30 Prozent der Patienten sind trotz Operation gestorben, ohne sie wären es allerdings 80 Prozent gewesen. Viele derer, die wir haben retten können, führen wieder ein beinahe normales Leben.” Die zweite neue Methode gegen die Hirnschwellung ist die Abkühlung. Vorbilder sind Murmeltier und Igel, die zum Winterschlaf ihre Körpertemperatur absenken. Der Mensch muß dazu künstlich beatmet werden, er erhält muskelentspannende Medikamente und eine leichte Narkose. Er liegt unter einer Kältedecke auf gekühlter Matratze und wird bei einer Körpertemperatur von 32 Grad intensiv beobachtet. Denn ihm fehlt die Fähigkeit der Tiere, seine Körperfunktionen an den Kälteschlaf anzupassen. Nach drei bis vier Tagen wird er langsam wieder erwärmt. Die Kunst des Pflegepersonals besteht darin zu verhindern, daß das Hirn beim Aufwärmen wieder anschwillt. 50 Patienten sind in Heidelberg so behandelt worden, bei 35 konnte die Hirnschwellung vermieden werden.
Ein kühler Kopf erhöht die Zahl jener Hirnzellen, die nach einem Schlaganfall wieder funktionieren. Wie im Winterschlaf sinkt bei niedriger Temperatur die Stoffwechselaktivität in den Zellen und damit der Sauerstoffverbrauch. Der reduzierte Stoffwechsel verhindert, daß sich die Folgen des Schlaganfalls auf molekularer Ebene fortsetzen.
Im Mittelpunkt der Forschung stehen derzeit die Kalziumionen. Diese positiv geladenen Teilchen sind die Antreiber in der Zelle: Über diverse Mitarbeiter unter den Zellbestandteilen kurbeln sie die Synthese vieler Eiweiße an und helfen, Fette zu spalten oder Proteine abzubauen, Prozesse, die Energie und damit Sauerstoff verbrauchen. Den aber hat das nicht durchblutete Gewebe rund um den Infarktkern am wenigsten. Deshalb steigt in einem sich verstärkenden Prozeß die Konzentration der Kalziumionen. Die werden nur dann effektiv aus der Zelle hinausgeschleust, wenn Sauerstoff als Energiespender zur Verfügung steht. Übersteigt die Kalziumkonzentration im Innern der Zelle eine bestimmte Schwelle, beginnt ein molekularer Amoklauf. Er zehrt nicht nur die restliche Energie rasch auf, sondern löst auch das natürliche Selbstmordprogramm der Zelle aus.
Gegenspieler des Kalziums, sogenannte Kalziumantagonisten, sollen diese Folgen des Sauerstoffmangels verhindern. In Tierversuchen wurden entprechende Medikamente erfolgreich getestet. Erste Anwendungen bei Schlaganfallpatienten brachten allerdings widersprüchliche Ergebnisse. “Für mich besteht trotzdem kein Zweifel, daß sie beim Schlaganfall grundsätzlich helfen können”, sagt Prof. Michael Hennerici von der Neurologischen Klinik Mannheim. “Man muß Kalziumantagonisten nur früh genug und mit anderen Medikamenten zusammen einsetzen, zum Beispiel einem Mittel für die Auflösung von Gerinnseln. Wie gut sie dann helfen, müssen weitere Studien zeigen.”
Amerikanische Neurologen, darunter Prof. Michael Moskowitz von der Harvard Medical School in Boston, setzen auf Stoffe, die die Zelle hindern, ihr Selbstmordprogramm zu starten, sogenannte Caspase-Inhibitoren. Im Tierversuch haben sie die Infarktregion damit um 40 bis 50 Prozent verkleinern können. Ein anderer Hoffnungsträger sind Wachstumsfaktoren, die neue Nervenfortsätze aus den Hirnzellen aussprossen lassen. Wachstumsfaktoren gehören zu den Kandidaten, die die Regeneration schlaganfallgeschädigten Gewebes fördern könnten. Sie sollen benachbarte Zellen, deren Verbindungen durch den Hirnschlag unterbrochen wurden, wieder miteinander vernetzen.
“Das wachsende Verständnis, was auf molekularer Ebene beim Schlaganfall passiert, ist die Grundlage für eine Menge guter Ideen, um Patienten vor einer Ausbreitung der Schäden zu schützen”, sagt der Heidelberger Werner Hakke, “und es gibt einige vielversprechende Ansätze. Aber unsere Patienten leiden oft zusätzlich an anderen Krankheiten, und da scheinen die Substanzen anders zu wirken als im Experiment bei ansonsten gesunden Tieren. Trotzdem glaube ich, daß wir über kurz oder lang Medikamente finden, die uns helfen, den Schaden zu begrenzen. Aber wir können auch schon heute viel für die Patienten tun und sie vor schweren Behinderungen bewahren. Je rascher sie kommen, desto bester.” Denn Zeit ist Hirn.
Nicola Siegmund-Schultze