Wenn Wissenschaftler überlegen, was sie als Nächstes erforschen, dann fragen sie entweder einen Kollegen, einen Vorgesetzten, einen Marketingexperten – oder sich selbst. Das ist Teil der Forschungsfreiheit, die das Grundgesetz garantiert. Aber es ist zugleich auch ein ziemlich enger Horizont, wenn man bedenkt, wie sehr unsere Gesellschaft von dieser Forschung abhängig ist.
Eine Konsequenz des begrenzten Blickfelds ist, daß sich Wissenschaftler meist nur recht einseitig Gedanken darüber machen, was erforscht werden sollte. Es geht ihnen oft weniger um die Ergebnisse, die die Gesellschaft am dringendsten benötigt, sondern darum, in welchen Feldern die spannendsten Ergebnisse zu erwarten sind. Der Blick nach vorn ist von Prognosen beherrscht. Kein Wunder, daß sich die Bürger immer häufiger übergangen fühlen und mit Abneigung oder Angst darauf reagieren, was sich “die da” in den Laboratorien wieder ausgedacht haben.
Einen ganz anderen Weg, mit Wissenschaft für die Zukunft zu planen, will das Forschungsministerium in Bonn jetzt gehen. Es hat einen Zukunftsdialog ins Leben gerufen und ihm den Namen “Futur” gegeben. Hier sollen Experten mit weitem Blickfeld in eigens einberufenen Gremien diskutieren, was wir an Forschung brauchen, was machbar ist, welche gesellschaftlichen Entwicklungen auf uns zukommen, zu denen Forschung und Technik in den nächsten zehn Jahren einen Beitrag leisten müssen. Überraschende Durchbrüche in der Grundlagenforschung sind ausdrücklich ausgenommen, denn sie sind weder plan- noch vorhersehbar.
Dieser Zukunftsdialog soll vor allem im Internet stattfinden – ein Novum. Noch nie vorher wurde in Deutschland versucht, dieses neue Medium zum gesellschaftlichen Diskurs zu nutzen. Die Voraussetzungen sind ideal: Das World Wide Web als schnelles, interaktives Medium verlangt geradezu nach Dialog. Ein weiterer Vorteil: Jeder, der ans Internet angeschlossen ist, kann teilnehmen – es genügt, das Stichwort in den Computer einzugeben.
Das zweite Novum: An diesem Zukunfts-dialog sollen alle Bürger beteiligt werden. Auch das ermöglicht die neue Technik. Auf den Webseiten stehen Informationen zu den Zukunftserwartungen der Experten bereit, in Diskussionsforen wird darüber debattiert und gestritten. Das erste Thema ist “Mobilität und Kommunikation”. Das geht fast jeden an: Was soll Autofahren morgen kosten? Wird die Kombination mit der totalen Telekommunikation zur totalen Kontrolle des Verkehrs führen? Oder werden Cyberwelt und Telepräsenz eines Tages das Reisen überflüssig machen?
Im Juni hat Forschungs-Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen den Zukunftsdialog “Futur” angekündigt. Noch ist es bescheiden, was sich von dem Diskurs im Internet widerspiegelt: Viele Daten aus der Zukunftsstudie “Delphi 98”, ein paar verirrte Forums-Beiträge, kaum Reaktionen der Experten. Doch gerade darauf kommt es an. Der Dialog im Netz kann noch so intensiv, die Diskussion um Technologiebedarf noch so fruchtbar sein: Wenn es nicht gelingt, die Debatte als wesentlichen Beitrag zu den politischen Prozessen einzuführen, wird sie ungehört verhallen. Eine Chance wäre vertan.
“Futur”, so wie es heute existiert, ist nur ein kleiner Schritt. Vielleicht ist es besser, auf diesen Erfahrungen größere Initiativen aufzubauen. Lohnen könnte sich der Versuch allemal: Größere Akzeptanz der Ergebnisse und weniger Isolation der Wissenschaft im öffentlichen Leben wären es wert. Es tut der Forschungsfreiheit wahrlich keinen Abbruch, wenn Forscher nicht nur den eigenen Dunstkreis im Blick haben, sondern weiterschauen – auf die Gesellschaft, von der sie ein Teil sind wie andere auch, etwa Politik, Medien, Rechts-wesen oder Wirtschaft.
Reiner Korbmann