Robert M. Nelson war die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Es war der engste Vorbeiflug an einem Kleinplaneten überhaupt, aber die Kamera sah nichts, weil ihre Elektronik die Orientierung verloren hatte und sie deshalb in eine falsche Richtung schaute. Der wissenschaftliche Leiter der Mission Deep Space 1 erblickte nur den schwarzen Weltraum auf dem Bildschirm, als die Aufnahmen der Raumsonde im Jet Propulsion Laboratory (JPL) der NASA in Pasadena, Kalifornien, ankamen. Nelson hatte Fotos erwartet, die noch zehn Meter kleine Details auf dem Planetoiden 9969 Braille zeigten, der die Sonne außerhalb der Erdbahn umkreist. Er wurde 1992 entdeckt und erhielt erst vor wenigen Monaten seinen Namen nach dem Erfinder der Blindenschrift Louis Braille (1809 –1852). Immerhin: Aufnahmen, die Deep Space 1 aus 14500 Kilometer Entfernung in der Rückschau gewann, zeigten Braille als einen 2,2 Kilometer langen und nicht einmal halb so breiten Körper, der vermutlich aus zwei zusammengelagerten Einzelobjekten besteht. Außerdem konnten mehrere Infrarotspektren von Brailles Oberfläche gewonnen werden. Als die Daten schließlich ausgewertet waren, hatte NASA-Experte Nelson doch noch einen Grund zur Freude: „Oft sagt ein Bild mehr aus tausend Worte, aber in diesem Fall sagt ein Spektrum mehr als tausend Bilder.” Die Analysen hatten ergeben, daß Braille reich an dem Mineral Pyroxen ist. Dies trifft auch für Vesta zu, den drittgrößten Kleinplaneten im Planetoidengürtel zwischen Mars und Jupiter. Entweder ist Braille ein Splitter des 500 Kilometer großen Planetoiden, oder beide sind Trümmer eines noch größeren, zerborstenen Himmelskörpers.
Schon vor ein paar Jahren fotografierte das Hubble-Weltraumteleskop auf Vesta einen riesigen Krater. Bei dem Einschlag könnte Braille abgesprengt worden sein, genau wie über 250 weitere bekannte Trümmer, die noch in der Nähe von Vesta kreisen. Kleinere Splitter haben sogar den Weg zur Erde gefunden – die Meteoritenklasse der Eukriten stammt höchstwahrscheinlich von Vesta. Durch Jupiters störende Schwerewirkung ist auch Braille aus dem Planetoidengürtel getrieben worden. Bahnberechnungen von Gerhard J. Hahn vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Berlin ergaben, daß Braille in etwa 6000 Jahren zum Erdbahnkreuzer wird und dann die Gefahr einer Kollision besteht. Technologisch hat die Deep Space 1-Mission alle Erwartungen der NASA-Forscher erfüllt: Die Tests von zwölf neuen Geräten an Bord der Sonde – darunter ein Ionentriebwerk (bild der wissenschaft 10/1998, „Mit Ionen zum Kometen”), hocheffiziente Solarzellen und ein automatisches Navigationssystem – verliefen hervorragend.
Rüdiger Vaas