Herbert Pietschmann – Physiker, Philosoph und Autor mehrerer populärwissenschaftlicher Bücher – führt mit erhellenden Beispielen vor, wo unser von der Naturwissenschaft geprägtes Weltbild zur Ideologie mutiert und das Denken und Handeln eher behindert als fördert. Die Art, wie er das tut, ist sicher nicht jedermanns Sache – der lange Atem, mit dem er Exkurse und Kapitelgrenzen überspannt, die väterlich-behutsame Sprache und vor allem die pastorale Güte, mit der er alles in sein Weltbild einschließt, auch das Fehlerhafte und Bornierte, das ihn doch eigentlich zum Schreiben trieb.
Pietschmann will aufräumen mit der “Ideologie der Neuzeit”, die, geblendet vom Erfolg der Naturwissenschaften, nur noch als wahr gelten läßt, was in naturwissenschaftlichen Kategorien zu greifen ist. Doch Naturwissenschaft, so Pietschmann, kann nie die ganze Wirklichkeit erfassen, da diese in allen Kulturen und letztlich in jedem menschlichen Kopf eine andere ist. Naturwissenschaft ist lediglich der – äußerst erfolgreiche – Versuch, Gemeinsames in all diesen unterschiedlichen Wirklichkeiten aufzuspüren, indem sie nur das als wahr anerkennt, was (theoretisch) jeder im Experiment prüfen kann.
Doch übertragen auf Gesellschaftliches, Persönliches und selbst auf Teile der Medizin gerät der naturwissenschaftliche Wahrheitsbegriff zur Ideologie, die menschliche Wirklichkeit außerhalb des Materiellen leugnet. Die Folgen sind Denkverbote, Expertokratie und Verantwortungsscheu.
Pietschmann plädiert für ein dialektisches Denken, weil sich durch Zulassen und Einbeziehen von Alternativen und Widersprüchen neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Herbert Pietschmann AUFBRUCH IN NEUE WIRKLICHKEITEN Der Geist bestimmt die Materie Weitbrecht Verlag Stuttgart, Wien, Bern 1997 255 S., DM 39,-
Rainer Klüting
