Horst Simon kennt den Rhythmus des Silicon Valley, des weltweit bekanntesten High-Tech-Mekkas südlich von San Francisco. Der deutschstämmige Computerwissenschaftler arbeitete anderthalb Jahre lang bei der Firma Silicon Graphics. “Alles ist auf kurzfristige Profite ausgerichtet”, resümiert Simon. “Gegen Ende jedes Quartals wird noch möglichst viel durchgepeitscht, damit die Vierteljahreszahlen gut aussehen. Dann sind alle völlig gestreßt und müssen sich erholen, was im Folgequartal zum gleichen verrückten Endspurt führt.”
In den USA – und ganz besonders im Silicon Valley – werde im Vergleich zu Deutschland viel härter gearbeitet, meint Simon. Er kann sich ein Urteil erlauben: Bevor er zu Silicon Graphics kam, arbeitete er beim Boeing-Konzern in Seattle und am Ames-Forschungszentrum der Raumfahrtbehörde NASA im kalifornischen Mountain View. Seit einem halben Jahr ist er Direktor des Energieforschungszentrums am National Laboratory in Berkeley und freut sich, daß er die Quartals-Hetze los ist: “Hier kann ich endlich langfristig planen – an Projekten, die erst in drei bis vier Jahren anstehen.”
Brendan Eich hingegen steckt bis über beide Ohren im Silicon-Valley-Streß. Er ist Programmierer bei der Software-Firma Netscape Communications in Mountain View. Neben seinem Computer lehnt ein zusammengerollter Futon. Im Endspurt vor der Einführung einer neuen Software – das Unternehmen fertigt Navigationsprogramme fürs Internet – beginnt sein Arbeitstag vor neun Uhr morgens und endet selten vor zwei Uhr nachts. Da kommt die japanische Bettmatte für ein kurzes Schläfchen gelegen.
Seit das Internet als weltweites Informationsnetz die Phantasie der Fans beflügelt, kann die Technik kaum mehr mithalten. Der Produktzyklus von der Konzipierung bis zur Vermarktung wird nicht mehr in Jahren, sondern in Monaten gemessen. Software wird nicht mehr auf Disketten verschifft, sondern gleich übers Internet zu den Nutzern versandt.
Auch Chip- und Computer-Hersteller werden in den Wirbel gesogen. “Wir leben nur noch nach Internet-Zeit”, stöhnt Andrew Groves, Chef der Firma Intel. Und David Hancock, Leiter der Abteilung für tragbare Computer bei Hitachi, versucht sein Team mit dem Mantra zu motivieren: “Geschwindigkeit ist Gott, Zeit ist der Teufel.”
Nur Investoren, Aktionäre und Tüftler können an den hastig zusammengeschusterten Produkten Gefallen finden. Die Konsumenten zahlen die Zeche – mit Geld, Frustration und verlorener Arbeitszeit: Programme und Geräte sind veraltet, bevor der Nutzer sie hinreichend beherrscht, und mangelhafte Software stürzt den Computer ins Chaos. Trotz Medienrummel herrscht deshalb Stagnation am PC-Markt.
Der Streß im Silicon Valley wird freilich gut bezahlt. Spitzenleute, die den Nervenkitzel in “Startup-Firmen” schätzen, können reich werden. Eich bekam bei seiner Einstellung vor zwei Jahren ein Monatsgehalt von zirka 100000 Dollar sowie Aktien-Optionen. Seit Netscape im letzten Sommer an die Börse ging, sind seine Aktien viel wert – auf dem Papier. Frühestens in vier Jahren darf er sie flüssig machen. Bis dahin muß er hart weiterarbeiten und auf Kursgewinne hoffen.
Auch Simon besaß Aktien-Optionen von Silicon Graphics. Viel Geld habe er damit nicht verdient, sagt er: “Ich bin viel zu spät in die Firma gekommen.” Nur Gründer und das erste Dutzend Mitarbeiter hätten die Chance aufs große Geld. Aber auch kleine Profitchancen reizen in einer Gesellschaft, in der Geld das Maß aller Dinge ist und finanzielle Absicherung weitgehend dem einzelnen überlassen bleibt.
Nur die steigen aus, die es sich finanziell leisten können. Der Apple-Mitbegründer Steve Wozniak hat seine Aktien eingelöst und widmet sich seitdem seiner Familie und dem Gitarrespielen.
Silicon Graphics: Die 1982 gegründete Firma in Mountain View hat sich mit dreidimensionalen Computerdarstellungen einen Namen gemacht. Aufsehen erregte der Unternehmens-David, als er im letzten Jahr einen Goliath aufkaufte: den Supercomputer-Hersteller Cray Research.
Stagnation am PC-Markt: Nach Angaben der Marktforschungsfirma Dataquest im kalifornischen San José nahm der Verkauf von Personal Computern (PC) – nach Zuwachsraten von 20 bis 40 Prozent – im letzten Jahr nur noch um 12 Prozent zu. Konkurrenz bekommt der konventionelle PC in diesem Jahr von billigeren “Netz-Computern” und “Web-TV”-Boxen, die sich auf die populärsten PC-Anwendungen beschränken: auf den Zugang zum Internet (“Web”) und die Electronic-Mail-Funktion.
Börse: Allein mit dem Internet-Lockruf lassen sich keine Aktien mehr verkaufen. Das erfuhr Wired Ventures Inc. in San Francisco im letzten Herbst: Zweimal mußte die drei Jahre alte “Startup-Firma” ihren Börsengang zurückziehen. Zwar ist ihr progressives “Wired”-Magazin und die Webseite “Hot Wired” bei Computer-Freaks und Internet-Surfern beliebt. Doch bei Aktienhändlern stießen die roten Zahlen der Firma auf Skepsis. Wired wird weiter auf private Investoren setzen müssen.
Infos im Internet
Lawrence Berkeley Lab: http://www.lbl.gov/ Silicon Graphics Inc: http://www.sgi.com/ Wired Ventures Inc: http://www.wired.com:80
Bruni Kobbe