Immer weiter dringt der Blick der Astronomen in die Frühzeit des Universums. Das 10-Meter-Keck-Teleskop auf dem Mauna Kea auf Hawaii entlarvte vor kurzem einen neuen Rekordhalter unter den Galaxien mit einer Rotverschiebung von z = 5,64. Damit wurde der bisherige Rekord von z = 5,34 – erst wenige Wochen zuvor bei einer anderen fernen Galaxie aufgestellt – auf Platz zwei verwiesen.
Rotverschiebung bedeutet: Das Licht der Sternsysteme wurde seit dem Urknall mit dem sich ständig ausdehnenden Universum gedehnt. z ist ein Maß für diese Dehnung des Lichts, meßbar an der Verschiebung der Spektrallinien zum roten Ende des Spektrums. Die Rotverschiebung beschreibt somit die unmittelbare Ausdehnung des Raumes selbst und nicht eine Bewegung in den Raum hinein. Sie ist daher auch ein Maß für die Zeit, die seit der Entstehung des Universums vergangen ist. Bei einem Objekt, das im Augenblick des Urknalls entstand, würden wir eine unendlich große Rotverschiebung messen. Ein Objekt, das eine Million Jahre nach dem Urknall entstanden ist, hätte einen Wert von z = 100, eines, das eine Milliarde Jahre nach der Geburt des Kosmos entstanden ist, hätte z = 10.
Das Licht der kürzlich vom Keck-Teleskop entdeckten Galaxien sehen wir zu einer Zeit, als vermutlich die erste Sterngeneration leuchtete. Auch dem Hubble-Weltraumteleskop gelangen erstaunliche Bilder von Galaxien am Rande der sichtbaren Welt. Ihr merkwürdiges Aussehen überraschte selbst die Experten: verwaschene bläulich schimmernde Nebelflecken von unregelmäßiger Gestalt. Ihre blaue Farbe weist darauf hin, daß hier viele Sterne entstehen. In einigen sind zudem helle Knoten zu erkennen. Sie sind einige tausend Lichtjahre groß und vermutlich die Geburtsstätten einer großen Zahl massereicher Sterne. Diese frühen Sternsysteme erscheinen deutlich kleiner als die heutigen Galaxien. Was haben die wolkig wirkenden Sternansammlungen aus der Frühzeit des Universums mit den regelmäßig geformten Galaxien zu tun, wie wir sie gegenwärtig sehen? Sind sie die direkten Vorläufer heutiger Galaxien oder nur Bausteine in deren Entwicklung?
Von allen Galaxien in unserer kosmischen Nähe, die also lange nach dem Urknall entstanden, gehören nur etwa drei Prozent zu den strukturlosen “irregulären” Galaxien. Der weitaus größte Teil ist symmetrisch aufgebaut. Gut 80 Prozent sind Spiralsysteme, der Rest zählt zu den kompakten Sternsystemen, die rund bis elliptisch geformt sind.
Die Gestalt der Galaxien hatte 1926 den amerikanischen Astronomen Edwin P. Hubble zu einer Einteilung inspiriert, die noch heute gebräuchlich ist. Hubble hatte zunächst eine Juristenausbildung glänzend abgeschlossen, bevor er eine steile Karriere als Astronom am Mount-Wilson-Observatorium einschlug. Dem ordnungsliebenden Spürsinn des Forschers fiel “eine auffällige Rotationssymmetrie um die beherrschenden zentralen Kerne” bei der Beobachtung von 400 nahen Galaxien auf. Das brachte ihn auf den Gedanken, die verschiedenen Galaxientypen entsprechend zu klassifizieren.
Hubble unterschied drei Hauptklassen, die er in einem Diagramm anordnete. Ausgehend von den elliptischen Sternsystemen (abgekürzt mit E), die entweder kugelrund (E0) sind, sich immer weiter abflachen können und schließlich spindelförmige Gestalt (E7) annehmen, gabelt sich das Schema auf. Im einen Ast der sogenannten Hubbleschen Stimmgabel sind normale Spiralsysteme, im anderen Balkenspiralen nach der Ausprägung von Kern und Weite der Spiralarme eingeordnet.
So gehören die Milchstraße und die Andromedagalaxie zum Typ Sb (für Spiralsysteme mit ausgeprägtem Kern und mäßig weiten Spiralarmen). Unsere Nachbargalaxie M 33 im Sternbild Dreieck wird wegen ihres kleinen Kerns und der weit geöffneten Spiralarme dem Typ Sc zugerechnet. Entsprechendes gilt für Balkenspiralen, für die Hubble das Kürzel SB einführte.
Einen solchen Aufbau sucht man bei den Galaxien des frühen Universums vergeblich. Wie konnten also die symmetrischen Strukturen in den heutigen Sternsystemen entstehen? Haben sich Kern und Scheibe der Galaxien nacheinander aus den anfänglichen Klumpen herausgebildet? Oder sind Sternsysteme von der Größe der Milchstraße durch Zusammenstöße und Verschmel-zungen mit kleineren Galaxien entstanden? Immerhin weisen Beobachtungen bei heutigen Galaxienhaufen und in unserer unmittelbaren kosmischen Nachbarschaft darauf hin, daß Kollisionen und nahe Vorübergänge von Galaxien keine Seltenheit sind. Sie könnten durchaus bei der Geburt neuer Sternsysteme eine Rolle spielen. Allerdings finden die beobachteten Zusammenstöße fast immer zwischen bereits voll entwikkelten Galaxien statt. Ob der Prozeß auch in der Frühzeit des Universums zur Entstehung von Protogalaxien aus riesigen Gaswolken beitrug, ist jedoch ungewiß.
“Viele Galaxien mit hohen Rotverschiebungen sehen sehr seltsam aus. Es ist nicht klar, ob diese Eigentümlichkeit auf Wechselwirkungen zwischen den Galaxien zurückzuführen ist oder ob es sich dabei um einen natürlichen Prozeß in der Entwicklung von Urgalaxien handelt”, resümiert Masafumi Noguchi, Astronom an der Universität von Tokio. Die alte Streitfrage der Astronomen, ob die Abfolge bei der Galaxienentwicklung von großen Strukturen zu kleinen oder umgekehrt verlief, versuchte der japanische Forscher im Experiment zu klären.
Als Labor diente ein Computermodell, mit dem Noguchi Weltenschöpfer spielte. Er kreierte zunächst eine fiktive Protogalaxie mit einer Gesamtmasse von 150 Milliarden Sonnenmassen, was knapp der Masse der Milchstraße entspricht. Dann fügte er einen Anteil dunkler Materie und mehrere Riesenmolekülwolken hinzu und gab dem Gebilde die Gestalt einer Kugel. Alles weitere überließ er den simulierten Naturkräften. Die machten sich vor allem bemerkbar durch die Anziehung der Massen und durch auseinandertreibende Kräfte, ausgelöst durch Sternexplosionen.
Im Modell stießen die Gaswolken zusammen, durchdrangen und vereinigten sich. Die Gasmassen wuchsen zu sternenschwangeren Wolken heran. Die Zeit, die dieser Prozeß benötigt, hängt von der Dichte der Molekülwolken ab. Diese bildeten stellare Kristallisationskeime aus, jeder etwa eine Million Sonnenmassen schwer. Aus ihnen entstanden dann extrem massereiche Sterne, die nach kurzer Lebensdauer in einer Supernova explodierten. Dieser Prozeß lieferte neue Energie, um benachbarte Gaswolken weiter zusammenzudrükken. Auf diese Weise wurden, wie in einem kosmischen Dominospiel, weitere Sterngeburten ausgelöst.
Noguchis Simulation brachte besonders große Gasklumpen mit einer Masse von einer Milliarde Sonnenmassen hervor, die sich durch die gegenseitige Massenanziehung immer mehr zum Zentrum der Protogalaxie verdichteten. Die rotierenden Klumpen verloren durch Kollisionen und Reibungsvorgänge an Energie und sammelten sich schließlich im Zentrum, wo sie den Kern einer Galaxie bildeten. Ein solcher Kern, der einer elliptischen Galaxie ähnelt, kann Sterne vieler Altersklassen enthalten. Die Scheibe einer Galaxie bildet sich in diesem Modell später.
Tatsächlich zeigen Beobachtungen, daß elliptische Galaxien im frühen Universum in der Überzahl sind. Regelmäßige Spiralsysteme finden sich deutlich seltener. “Für mich sind die verschiedenen Typen der Hubble-Klassifikation das Ergebnis einer zeitlichen Entwicklung bei der Bildung scheibenförmiger Galaxien”, schreibt der japanische Forscher in seiner Arbeit. Sollte sich diese Sicht bestätigen, hätte Edwin Hubble mit seinem auf morphologischen Kriterien beruhenden Schema den richtigen Instinkt bewiesen – zu einer Zeit, als noch kaum etwas über die Natur der Galaxien bekannt war.
Attraktiv ist Noguchis Modell aber auch, weil es eine zwanglose Erklärung für die große Häufigkeit von Quasaren im frühen Universum anbietet. Der japanische Forscher sieht in den klumpigen Strukturen der Protogalaxien die Saatkörner für aktive Galaxienkerne. Die Ursache für deren enorme Leuchtkraft könnten rotierende Gaswolken sein, die von einem im Zentrum sitzenden supermassiven Schwarzen Loch wie von einem Strudel eingesaugt werden.
Freilich wird sich Noguchis Hypothese an der Realität messen müssen. Ein Test ist schon in Sicht: Das Modell des japanischen Forschers sagt rotierende Gasklumpen um den Massenschwerpunkt der Protogalaxien vorher. Das sollte zu messen sein.
Silvia von der Weiden