Ultraschall. Die werdende Mutter hält den Atem an. Kühl rollt die gelbbeschmierte Kugel über ihren schon etwas gewölbten Bauch. Auf dem Bildschirm erscheinen schwarz-weiße Strukturen, zunächst schwer zu erkennen. “Da ist Ihr Baby”, sagt die Ärztin. Die junge Frau staunt glücklich.
Sie erkennt das Köpfchen, die beiden Gehirnhälften, das Gesicht mit Nase, Augen, Ohren – wie perfekt alles schon ist. Die Wirbelsäule und die Rippen sind klar zu erkennen. Die Ärmchen bewegen sich und führen den winzigen Daumen zum Mund. “Es nuckelt!” ruft die Mutter. Nun zeigt das Bild das Herz in Großaufnahme. Die vier Kammern sind perfekt gebildet, ziehen sich rhythmisch zusammen und pumpen das Blut durch den kleinen Körper. Die Nieren. Die Ärztin ist zufrieden, alles ist in Ordnung. Zuletzt der Unterleib. Junge oder Mädchen? “Die Beinchen sind davor, man kann nichts erkennen.” Egal. Gerade vier Monate und schon ein richtiges Menschlein.
Nicht jede werdende Mutter hat einen Entwicklungsbiologen als Mann. Diese schon. Er heißt Dirk Müller und arbeitet an der Harvard-Universität in Cambridge, USA. “Wie bilden sich eigentlich die verschiedenen Organe?” fragt seine Frau Carla ihn beim Abendessen. Ein Gehirn ist schließlich ganz anders gebaut als ein Herz oder eine Hand. “Dafür sind Signalmoleküle zuständig”, erklärt der werdende Vater. “Sie sagen den Zellen des Embryos, was sie tun sollen, ob sie Knochen oder Nerven werden, wandern oder bleiben, sich teilen oder sterben sollen. Auf diese Weise nehmen Gewebe Gestalt an. Entwicklungsbiologen sagen: Signalmoleküle induzieren Musterbildung.”
“Das muß ja irrsinnig kompliziert sein – so viele verschiedene Muster und jedesmal andere Signalmoleküle”, wundert sich Carla. “Das könnte man meinen”, sagt Dirk. “Es ist aber nicht so. Tatsächlich sind nur einige Familien von Signalmolekülen für fast alle entwicklungsbiologischen Vorgänge zuständig. So sind zum Beispiel die Hedgehog- Signalmoleküle nicht nur an der Bildung der Gliedmaßen beteiligt, sondern auch für das Zentralnervensystem, die Zähne, Augen, Haare, für Lunge, Darm, Wirbelsäule, Rippen und Spermien zuständig.” “Also von Kopf bis Fuß”, faßt sie zusammen. Dirk nickt. “Damit ist die Vielseitigkeit der Signalmoleküle aber noch nicht ausgeschöpft. Die meisten Hedgehogs kommen nicht nur beim Menschen vor, sie steuern die Entwicklung auch bei Fliege, Frosch, Fisch und Maus. Nur das Ergebnis sieht jedesmal anders aus.”
“Hedgehog ist doch das englische Wort für Igel, oder?”
“Richtig – aber eigentlich verdanken die Hedgehogs ihren Namen einer mißgebildeten Fliegenlarve. Die Biologin Christiane Nüsslein-Volhard und ihr amerikanischer Kollege Eric Wieschaus untersuchten Anfang der achtziger Jahre am Max-Planck-Institut in Tübingen die Entwicklung der Fruchtfliege Drosophila. 1995 wurden sie für ihre Entdekkungen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Eine der vielen Fliegenlarven, die sie unter dem Mikroskop inspizierten, war über und über mit Borsten bedeckt – wie ein Igel. Der Larve fehlte ein Signalprotein. Die Wissenschaftler tauften es Hedgehog. Damals hatten sie noch keine Ahnung, daß Hedgehog auch in Wirbeltieren und sogar im Menschen von Bedeutung sein könnte. Sie interessierten sich vorerst nur für seine Funktion bei der Entwicklung der Fliege.”
“Und was macht Hedgehog in der Fliege”, fragt Carla.
“Die Fliege ist aus vielen Segmenten aufgebaut. Im Embryo sind sie anfangs noch gleich – etwa beim Regenwurm -, erst später bekommen sie verschiedene Formen und Aufgaben. Hedgehog definiert, wo in jedem Segment vorne und wo hinten ist. Fehlt Hedgehog, bestehen alle Segmente nur aus hinteren Hälften. Von außen zeigt sich das daran, daß sich die Haare der hinteren Segmentgrenze über den gesamten Leib der Larve ausbreiten. Das verleiht ihr den Igel-Look.”
“Und was hat die borstige Made mit unserem Baby zu tun?”, will sie wissen.
“Mehr als man noch vor zehn Jahren für möglich gehalten hätte. Entwicklungsbiologen haben die überraschende Entdeckung gemacht, daß viele Fliegenproteine in sehr ähnlicher Form auch in höheren Organismen – den Menschen eingeschlossen – eine Rolle spielen. Also suchten sie in Wirbeltieren nach dem Hedgehog-Protein. Während die Fliege sich mit einem Hedgehog begnügt, haben Maus, Huhn und Mensch drei: Desert, Indian und Sonic Hedgehog. Fisch und Frosch haben sogar noch mehr Hedgehogs. Doch Sonic Hedgehog ist der Star in der Igel-Familie. Sonic hat auch in unserem Baby gute Arbeit geleistet.”
“Wo denn?” fragt sie und kramt die Ultraschallfotos hervor. “Bei der Bildung der Finger zum Beispiel”, erklärt er und zeigt auf das Händchen des nuckelnden Babys. “Es gibt zwei Organisationszentren im Arm des Embryos. Eines liegt an der Spitze. Es sendet Signalmoleküle aus, um die Längsrichtung des Arms festzulegen. Sie sorgen dafür, daß Schulter, Oberarm, Unterarm und Hand in der richtigen Reihenfolge wachsen. Das andere Organisationszentrum ist anfangs in Höhe der Achsel und wandert später zur Hand. Es bleibt aber immer auf der Seite des kleinen Fingers. Dort wird Sonic Hedgehog produziert. Es bestimmt die Identität der Fingerglieder. In der Nähe des Zentrums, wo viel Sonic Hedgehog vorhanden ist, entsteht der kleine Finger, weiter weg und bei abnehmender Konzentration nacheinander Ring-, Mittel-, Zeigefinger und Daumen.
Die dritte Raumrichtung, die Unterscheidung von Handrücken und Handfläche, wird von Signalmolekülen aus einer anderen Familie, den sogenannten Wints, organisiert. Außerdem hat Sonic Hedgehog dazu beigetragen, daß unser Baby den Daumen in den Mund stecken kann, denn es regt die Bildung von Nervenzellen an, die die Muskeln steuern. Diese Nervenzellen liegen auf der Bauchseite des Rückenmarks. Die Nervenzellen, die die Sinnesreize weiterleiten, liegen auf der rückwärtigen Seite.”
Jetzt will Carla es genau wissen: “Haben die anderen beiden Igel-Proteine auch etwas zu unserem Baby beigetragen?” “Sicher”, erklärt Dirk. “Indian Hedgehog ist für die Umwandlung von Knorpel in Knochen zuständig. Die Ärmchen und Beinchen des Embryos sind zunächst rein aus Knorpel gebaut, wie die Gräten von einem Fisch. Während sie außen noch weiterwachsen, fangen sie von der Mitte her aber schon an zu verknöchern. Indian Hedgehog reguliert die Geschwindigkeit der Umwandlung. Ohne dieses Protein würde der Knorpel zu schnell zu Knochen werden. Das Ergebnis wären Stummelarme und Stummelbeine.”
“Was alles so schiefgehen kann”, sinniert sie, während er in Gedanken schon beim dritten Hedgehog ist. “Desert Hedgehog ist im Hoden zu finden. Es ist nötig, damit die Spermien reifen können. Ob das für unser Baby wichtig ist, wissen wir ja noch nicht. Ob es wohl ein Junge oder ein Mädchen ist?” “Bald sind wir schlauer”, sagt sie und will ein Frage loswerden, die ihr schon die ganze Zeit durch den Kopf geht: “Finger, Nerven, Knochen, Spermien – wie kommt es, daß Signalmoleküle wie die Hedgehogs für so viele verschiedene Strukturen zuständig sind? Und warum tun sie normalerweise zur richtigen Zeit das Richtige? Warum fangen die Zellen des Rückenmarks nicht auf einmal an, Finger zu bilden?”
“Das hat mich auch immer interessiert”, gibt ihr Mann zu, “und ich habe mich mit vielen Kollegen darüber unterhalten. Chin Chiang zum Beispiel, Professor an der Vanderbilt University in Nashville, sagte mir, es komme auf die Gene an, die aktiviert werden. Ein Signalmolekül löst ja nicht unmittelbar eine Reaktion in einer Zelle aus, sondern erst nach vielen Zwischenschritten. Es ist wie der erste Dominostein in einer langen verzweigten Kette. Zuerst bindet das Signalmolekül an ein Rezeptorprotein in der Zellmembran. Das wiederum aktiviert ein drittes Molekül, welches seinerseits ein viertes aktiviert und so weiter. Irgendwann gelangt die Nachricht in den Zellkern, wo Gene an- oder ausgeschaltet werden. In verschiedenen Geweben werden andere Gene aktiviert, was wieder zu unterschiedlichen Reaktionen der Zelle führt.
Matthew Scott, Professor an der Stanford University in Kalifornien, betont immer, daß jede Zelle ihre Vorgeschichte hat. Hautzellen zum Beispiel wüßten, daß sie Hautzellen sind. Sie hätten ein Art Selbstbewußtsein. Wie das zustande kommen soll, kann er aber auch nicht erklären.”
“Selbstbewußte Zellen”, wiederholt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. “Und wieso unterscheiden sich eigentlich Fliege und Mensch, wenn ihre Entwicklung doch von denselben Molekülen gesteuert wird?”
“Es sind nicht genau dieselben Moleküle, aber sehr ähnliche. Das verwirrende ist, daß manche Signalmoleküle in Fliege, Maus und Mensch genau dieselben Aufgaben haben, manche aber völlig verschiedene. Das Fliegenprotein Eyeless – “ohne Augen” – und das Protein Pax6 in Mensch und Maus sind jeweils für die Augenbildung zuständig. Als Walter Gehring, Professor an der Universität Basel, das Mäuse-Gen für Pax6 in Fliegenflügel verpflanzte, wuchsen dort tatsächlich Augen. Aber Fliegenaugen, keine Mäuseaugen.”
Das ist ja scheußlich”, kommentiert Carla. Dirk findet es spannend: “Ähnliche Moleküle bilden manchmal aber auch ganz verschiedene Muster. Ein Fliegen-Gen mit dem Namen Abd-B definiert zum Beispiel das Hinterteil der Fliege. Bei Hühnern sind ganz ähnliche Gene an der Bildung der Flügel beteiligt. Die Natur benutzt offenbar dieselben Gene immer wieder – manchmal für dieselben Aufgaben, manchmal für neue.”
“Ich hätte nie gedacht, daß unser Baby so viel mit einer Fliege gemeinsam hat”, sagt sie nachdenklich. “Der Regisseur von dem Horrorfilm ,Die Fliege` muß das geahnt haben.”
Artübergreifende Baupläne
Eine Familie von Genen, die die Entwicklung steuern, heißt Hox. Hox-Gene arbeiten bei allen Lebewesen im Prinzip gleich, ihr Zusammenspiel legt bei der Fliege wie beim Menschen “vorne” und “hinten” fest, sowie die Anordnung der Körperteile zueinander. Im Zug der Evolution wurde lediglich die Zahl der Steuergene beim – komplexer gebauten – Menschen größer.
Carola Hanisch