Wie von dunklem Sirup überzogen, glänzt die Flanke des Vulkans Kilauea auf Big Island, der größten Insel Hawaiis. Seit dem Beginn der jüngsten Ausbrüche vor 15 Jahren fließt dort eine Lavaschicht über die andere und erkaltet. Die schwarze Mondlandschaft wirkt leblos. Nichts wächst dort, nichts bewegt sich. Doch manchmal reißen Löcher auf, aus denen weißer feiner Nebel steigt. “Ätzende Gase, die zeigen, daß sich unter der dunklen Decke einiges tut”, sagt Janet Babb, Geologin am Hawaiian Volcano Observatory (HVO), der Beobachtungsstation am Kilauea.
Ein System aus Tunneln, gefüllt mit glühender Schmelze, durchzieht die schwarzen Lavaschichten. Sie können die Lava unterirdisch kilometerweit transportieren. Am Vulkanobservatorium von Hawaii werden die Lavatunnel jetzt erstmals wissenschaftlich genau untersucht. Die verborgenen Lavaströme sind eine große Bedrohung, denn sie können besiedelte Gebiete erreichen, die viele Kilometer von der Ausbruchstelle entfernt liegen.
Lavatunnel gibt es nicht nur auf Hawaii. Die unterirdischen Röhren, die einen Durchmesser von mehreren Metern haben, sind an den Hängen von vielen nicht-explosiven Vulkanen zu finden: auf Island, der Kanaren-Insel Lanzarote und Sizilien. Auf Lanzarote leitete ein Lavatunnel während eines Ausbruchs um 1000 v. Chr. aus dem Monte Corona die Schmelze über 20 Kilometer bis zum Meer. Der Künstler und Architekt Cesar Manrique baute in den siebziger Jahren die voluminösen unterirdischen Gänge und Höhlen zu spektakulären Konzertsälen, Restaurants und Konferenzräumen aus.
Sogar auf dem Mond und dem Mars gibt es in der Umgebung der Krater Strukturen, die als Lavatunnel interpretiert werden. Sie sind dort mehrere hundert Kilometer lang. Der längste irdische Lavatunnel in Queensland, Australien, mißt knapp 100 Kilometer, der längste Lavatunnel auf Hawaii im Lavastrom des Mauna Loa gut 50 Kilometer. Die Hauptröhre unter der Lavadecke des derzeit tätigen Kilauea ist immerhin 12 Kilometer lang. Sie reicht vom Pu’u O’o-Krater, der aktiven Ausbruchstelle, bis zur Küste. Weil die hawaiianischen Vulkane über Jahre hinweg ausbrechen, läßt sich die Entstehung von Lavatunneln dort besonders gut studieren.
Die Vulkanologin Janet Babb berichtet: “Ob Lavatunnel entstehen oder ob die Schmelze gleich nach dem Ausfließen in der Nähe des Kraters erstarrt, ist das Ergebnis eines sehr komplexen Wechselspiels zwischen dem Nachschub an heißer Lava, der Fließgeschwindigkeit des Glutstroms und der Temperaturverteilung darin.” Ihre Kollegen haben zwei verschiedene Bildungsmechanismen beobachtet: Nahe der Eruptionsstelle fließt die Lava zunächst in Kanälen ab. Durch die langsame Abkühlung des Stroms an den Rändern wachsen Seitenwände, die den Glutfluß schließlich überdachen können. In größerer Entfernung von der Eruptionsstelle entstehen die Tunnel aus der fließenden Schmelze heraus. Wenn der Lavastrom länger der Luft ausgesetzt ist, kühlt er von den Seiten und der Decke her ab und wird dort zäh. Doch in der Mitte bleibt er flüssig. Durch die dicke Ummantelung isoliert, kann er seine Temperatur von mehr als 1000 Grad Celsius lange halten. Eingeschlossen in der dicken selbstgebildeten Röhre fließt die Lava schneller als der Mantel vorwärts, der außen allmählich erkaltet und erstarrt.
Der hawaiianische Geophysiker Dr. Jim Kauahikaua rückt den Lavatunneln des Kilauea mit einem ganzen Arsenal von Meßinstrumenten zu Leibe – ein gefährliches Unternehmen, vor allem in der Nähe der “Skylights”. Das sind Einbruchlöcher in der Tunneldecke, oft größer als ein Scheunentor, aus denen weiße Gasnebel aufsteigen. Sie geben den Blick auf den glühenden Lavastrom frei. Die Tunneldecke ist in der Umgebung der Skylights oft brüchig, die Luft unerträglich heiß, und die ätzenden Gase reizen die Schleimhäute in Mund und Nase.
Mit einem Radargerät mißt Kauahikaua dort die Fließgeschwindigkeit der Lava, mit einem Radiometer die Oberflächentemperatur und, wenn der Wind die größte Hitze vertreibt, mit einer Art eisernem Lot die Tiefe des Lavastroms. “Die Schmelze ist im Tunnel etwa eineinhalb bis zwei Meter tief, sie fließt zwischen einem halben und sieben Metern pro Sekunde und ist 1155 Grad Celsius heiß”, faßt der Geophysiker seine aktuellen Messungen zusammen.
Mit dem eisernen Lot wiesen er und seine Kollegen nach, daß die mächtigen Lavaströme den Tunnelboden aufschmelzen und abtragen können – ähnlich wie ein Fluß sein Bett vertieft, wenn er viel Wasser führt. Die Forscher maßen einen Erosionsbetrag von zehn Zentimeter pro Tag. Dadurch ist die Schmelze gut isoliert und hält ihre hohen Temperaturen über weite Strecken. Außerdem hat Kauahikaua eine Methode entwikkelt, um anhand verschiedener Parameter die Fließrate der Lava im Tunnelsystem zu errechnen. “Aus ihr läßt sich ablesen, wie es um die Aktivität des Kilauea steht”, sagt Kauahikaua. “Im Moment fördert der Vulkan etwa 750000 Kubikmeter frische Lava am Tag.” An der Küste trifft die Schmelze – immer noch mehr als 1000 Grad Celsius heiß – auf das kalte Wasser des Pazifik. Riesige Dampfwolken zischen empor, und die Detonationen sind weithin zu hören, Lavafetzen fliegen durch die Luft. Dadurch verändert sich die Küstenlinie ständig. Allein während der jüngsten Ausbruchserie hat sich die Insel durch den ständigen Lavafluß ins Meer um 120 Hektar vergrößert. Doch das neue Land ist nicht stabil: Immer wieder brechen große Stücke ab und versinken im Wasser. Die Forscher nennen das “Bench-Collapse”. Der größte Kollaps ereignete sich am 31. Januar 1996: Fast ein Hektar Küste sackte plötzlich in die Tiefen des Ozeans.
Der Grund für diese Katastrophen ist der unregelmäßige Lavanachschub aus dem Krater. Nimmt er zu, kann sich die Schmelze in den Tunnelröhren stauen und der Druck steigt. Dem halten die zerklüfteten Lavaschichten an der Küste nicht immer stand, besonders wenn sie auf lockerem schwarzem Lavasand, Bimssteinen und Lavablöcken liegen. Ein Teil des jungen Landes bricht schließlich in großen Schollen weg.
Wie eine offene Wunde klafft das Innere der Lavaschichten auf und ist der Brandung preisgegeben. Wasser gerät in die Tunnelröhren, wo es zischend verdampft. Es kommt zu gewaltigen Explosionen: Heuballengroße Blöcke werden viele hundert Meter weit ins Land geschleudert. Lavafontänen schießen in die Höhe. Kochend heißes Wasser ergießt sich in Flutwellen auf die Küste. Bei einem Kollaps im April 1993 wurde ein Tourist getötet, der Steinregen verletzte viele weitere Besucher. Seither können Touristen den Eintritt der Lava ins Meer nur noch aus sicherer Entfernung beobachten.
Für jedermann zugänglich ist dagegen der Thurston-Lavatunnel, so benannt nach einem Förderer des Vulkan-Nationalparks auf Hawaii. 350 bis 500 Jahre ist es her, daß darin Lava floß. “Als der Glutstrom verebbte, lief der Tunnel aus”, erzählt Jim Kauahikaua. Zurück blieb eine hohle Röhre. Die verschiedenen Pegelstände des letzten Lavaflusses zeichnen sich an den Tunnelwänden als dicke Rippen ab. Kleine schwarze Zapfen hängen von der Decke – die letzten Zeugen der großen Hitze, die das Gestein der Tunnelwände zum Schmelzen brachte.
Heute ist es dort angenehm kühl und feucht. Wasser sickert aus den Rissen im erkalteten Lavagestein. “Die Hawaiianer haben früher in solchen alten Tunneln Behälter aufgestellt und das Tropfwasser gesammelt”, erklärt Jim Kauahikaua. “Für sie waren die unterirdischen Röhren außerdem magische Plätze, wo sie ihre Verstorbenen bestatteten. Die Lage dieser Friedhöfe ist jedoch ein streng gehütetes Geheimnis, und es gilt als Sakrileg, die Ruhe der Toten zu stören.”
Angelika Jung-Hüttl