Am 26. Oktober 2028, kurz nach Mitternacht – wird die Menschheit den nächsten Tag noch erleben?” So fragte am 16. März die Bild-Zeitung. Nicht nur unter den um Schlagzeilen bemühten Revolverblättern, auch aus dem Weltraum wird scharf geschossen – das jedenfalls ließ sich mit etwas Phantasie aus der Meldung schließen, die die Internationale Astronomische Union (IAU) fünf Tage zuvor veröffentlicht hatte.
Darin gab Brian Marsden vom Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics in Cambridge, Massachusetts, erste Berechnungen der Bahn eines Kleinplaneten bekannt, den Jim Scotti von der Universität von Arizona am 6. Dezember letzten Jahres mit dem Spacewatch- Teleskop auf dem Kitt Peak entdeckt hatte. Der Kleinplanet mit der vorläufigen Bezeichnung “1997 XF11” umrundet die Sonne in 21 Monaten und dürfte etwa 1,6 Kilometer groß sein – ein stattlicher Brocken im Vergleich zu den anderen bekannten Erdbahn-Kreuzern.
Solche Kleinplaneten halten sich nicht wie gewöhnlich im Planetoidengürtel zwischen Mars und Jupiter auf, sondern stoßen auf elliptischen Bahnen weit ins innere Sonnensystem vor. Über hundert davon können der Erde gefährlich nahe kommen. Die meisten sind aber nur wenige Dutzend bis ein paar hundert Meter groß.
Der Orbit der Erdbahn-Kreuzer schneidet den unseres Planeten – oder kommt ihm zumindest bedrohlich nahe. Wenn die Erde einen dieser Schnittpunkte durchläuft, befinden sich die Kleinplaneten normalerweise irgendwo anders auf ihrer Bahn. Das muß aber nicht so sein.
Marsdens ersten Berechnungen zufolge sollte “1997 XF11” im Jahr 2028 in rund 40000 Kilometer Entfernung an der Erde vorbeifliegen – das entspricht nur knapp einem Zehntel des Mondabstandes. Die Bahn war aber zunächst noch so vage, daß Marsden eine Kollision nicht ausschließen konnte, mit einer Unsicherheit von plus/minus 300000 Kilometern. “Die Möglichkeit einer Kollision ist ziemlich gering, aber sie besteht”, hieß es daher in der IAU-Mitteilung. Der Planetoid sei “der gefährlichste Himmelskörper, den wir jemals entdeckt haben”, kommentierte Jack Hills vom Los Alamos National Laboratory. “Das macht mir Angst. Wenn ein Objekt dieser Größe auf die Erde trifft, wird das viele Menschenleben kosten.”
Eine Kollision mit dem 27000 Kilometer pro Stunde schnellen Planetoiden wäre fatal. Er besitzt eine Sprengkraft von 320000 Tonnen Dynamit oder von zwei Millionen Hiroshima-Bomben – das 25fache des Kernwaffenarsenals aller Nuklearmächte. Würde die kosmische Bombe ins Meer stürzen, hätte sie eine über hundert Meter hohe Flutwelle zur Folge, die einen Küstenstrich von vielen tausend Kilometern Länge verwüsten und ganze Städte unter Wasser- und Schlammassen begraben könnte. Ein Einschlag auf dem Festland würde Tausende von Quadratkilometern in Schutt und Asche legen, riesige Mengen an Staub in die Atmosphäre wirbeln und einen etwa 30 Kilometer großen Krater hinterlassen.
Daß solche kosmischen Karambolagen nicht bloß Science-fiction-Ideen sind, hat im Juli 1994 der Absturz des Kometen Shoemaker-Levy 9 auf Jupiter bewiesen. Auch die Erde wurde immer wieder von Bomben aus dem All heimgesucht. Das Nördlinger Ries in Bayern ist die Narbe eines solchen Treffers.
“,1997 XF11` ist der interessanteste Fall seit langem”, sagt Ted Bowell vom Lowell Observatory in Flagstaff, Arizona. Keiner der Planetoiden, die in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Mondentfernung die Erde passiert hätten, sei so groß gewesen. Anlaß für eine Prophezeiung des Weltuntergangs besteht trotzdem nicht, denn die Kollisionswahrscheinlichkeit liegt unter 0,1 Prozent.
Tatsächlich konnten die Astronomen inzwischen Entwarnung geben. Am Jet Propulsion Laboratory (JPL) im kalifornischen Pasadena war es gelungen, “1997 XF11” auf Archivbildern zu finden, die bereits 1990 am Mount Palomar-Observatorium aufgenommen wur-den. Dadurch kennt man nun ein beträchtlich größeres Bahnstück des Planetoiden. “Wir gehen nun von einem ungefährlichen Mindestabstand von rund 960000 Kilometer im Jahr 2028 aus. Die Trefferwahrscheinlichkeit ist praktisch Null”, beruhigt Donald Yeomans vom JPL.
“Daß die Nachricht von der bevorstehenden Kollision so hohe Wogen schlug, beeinträchtigt unsere Glaubwürdigkeit”, ärgert sich Richard Binzel vom Massachusetts Institute of Technology. Clark Chapman vom Southwest Research Institute in Boulder, Colorado, fürchtet, daß die Leute abstumpfen, weil man mit immer besseren Suchmethoden noch mehr solche nahen Begegnungen voraussagen wird.
Er erinnert an die Fabel vom Schaf, das seine Artgenossen mit vorgetäuschten Warnungen vor einem Wolf hinters Licht führt – bis der tatsächlich einmal kommt und kein Schaf rechtzeitig flieht. “Es besteht die Gefahr, daß uns niemand mehr glaubt, wenn wir wirklich einen drohenden Volltreffer entdecken.”
Dabei können die Erdbahn-Kreuzer sehr wohl Gefahren bergen. Beobachtungsprojekte und genaue Bahnüberwachungen sind daher unerläßlich, wie schon 1995 das vom US-Kongreß eingerichtete “Near Earth Objects Search Committee” empfahl. Einen Erdbahn-Kreuzer auf Kollisionskurs wird man wohl Jahrzehnte vorausberechnen können. Mit Bomben ließe sich der Kleinplanet rechtzeitig ablenken, so daß er an der Erde vorbeifliegt.
Rüdiger Vaas