Warum gibt es in Deutschland so wenige Evolutionsbiologen? Eine der originellsten Antworten auf diese Frage lautet: Weil es so viele Neurowissenschaftler gibt. Gleich zwei der von bdw-plus befragten Experten brachten den Mangel auf dem einen Gebiet mit der Überfülle auf dem anderen in Verbindung. „Die Deutschen sind technikbesessen. Sie geben viel Geld für Maschinen aus”, sagt Nico Michiels, Professor für die Evolutionsökologie der Tiere in Tübingen. Und fügt hinzu: „Entsprechend wird in Deutschland oft mechanistisch gedacht. Es gibt keine deutsche Uni ohne Neurobiologie.” Fast wortgleich verweist sein Kollege aus Plön, Professor Manfred Milinski, auf die „Dominanz der Neurophysiologie in Deutschland” und deren „mechanistische Sicht” . Michiels ist in Belgien geboren, Milinski ist Deutscher – und abgesprochen haben sie sich offensichtlich nicht. Ist also etwas dran an ihrer Diagnose?
Schlagen wir nach bei Charles Darwin. „Vor ein paar Jahren baten mich die Sekretäre einer deutschen psychologischen Gesellschaft in allem Ernst um eine Photographie von mir”, erzählt er in seiner Autobiografie „Mein Leben”. Und fährt fort: „ Nach einer Weile erhielt ich das Protokoll einer Sitzung, in der anscheinend meine Kopfform Gegenstand einer öffentlichen Diskussion gewesen ist und einer der Vortragenden erklärt hat, meine Hochwürden-Beule sei so stark ausgeprägt, dass sie für zehn Pfarrer reiche.” Nun hatte Darwin zum Zeitpunkt seiner ferndiagnostischen Kopfuntersuchung dem Beruf des Pfarrers längst abgeschworen. Er erzählt die Geschichte ihrer ironischen Pointe wegen. Doch wie ginge sie heute aus? Vermutlich würde man den berühmten Forscher bitten, sein Haupt in einen Kernspintomografen zu legen, ihm ein paar Denkaufgaben stellen und seine Hirnbilder mit denen einer Kontrollgruppe von Geistlichen vergleichen – um dann womöglich zu ähnlichen Folgerungen zu kommen. Es scheint, als verwechsle der typische deutsche Wissenschaftler die Frage nach der Funktion eines Organs mit der nach ihrem Funktionieren.
Das gilt auch für das Gehirn: Auf die Fragen, warum sich der menschliche Geist so und nicht anders entwickelt hat, warum der Mensch solch ein leistungsfähiges Gehirn hat, was dessen Anpassungsvorteil in der Geschichte der Menschheit gewesen sein mag, hört man nicht viele deutsche Antworten. Diese kommen nach wie vor eher aus den angelsächsischen Ländern, wo man ja auch – darauf weist Professor Wolfgang Stephan, Evolutionsbiologe von der Universität München, hin – äußerst populäre Sachbuchautoren zum Thema kennt, Richard Dawkins und Stephen J. Gould beispielsweise. Stephan: „Die liest dort jeder.”
Stephan macht noch auf eine andere mögliche Ursache für den schlechten Stand der Evolutionsforschung in Deutschland aufmerksam: „Die darwinistische Tradition wurde hier jäh unterbrochen durch den Nationalsozialismus.” Neben der biologistisch argumentierenden, aber biologisch nicht gestützten Rassenideologie der Nazis konnte eine seriöse Evolutionsbiologie nicht bestehen, neben dem Sozialdarwinismus eines Adolf Hitler und eines Alfred Rosenberg keine Aufklärung im Sinne Charles Darwins. An amerikanischen Universitäten hingegen überdauerte die aufklärerische Haltung bruchlos, berichtet Stephan, der von 1987 bis 2000 in den USA geforscht und gelehrt hat: „Sie bildet einen Kontrapunkt zu gefährlichen gesellschaftlichen Strömungen. Wissenschaftler und Studenten setzen sich gegen Rassismus, gegen Sozialdarwinismus und gegen den Kreationismus ein.”
DER ZÜNDFUNKE
Stephan selbst hielt Kurse zum Streitthema „Schöpfung oder Evolution?” und stellte fest: „Nicht nur dumme Studenten zweifeln an der Evolutionsbiologie.” Jedoch sei mancher nachdenklich geworden, wenn er in Laborversuchen mit den genetischen Varianten bei Fruchtfliegen konfrontiert wurde. Wenn bereits Individuen derselben Art genetische Unterschiede zeigen, Individuen verschiedener Arten lediglich mehr davon – sprach das nicht eher für einen allmählichen Prozess der Artbildung als für einen einmaligen und für alle Zeiten gültigen Schöpfungsakt?
Zurück in Deutschland, also in der – laut Milinski – „Diaspora der Evolutionsforschung”, war Stephan froh, als er bei der VolkswagenStiftung auf Interesse für sein Thema stieß. Im Jahr 2002 trafen er und sein Kölner Kollege Professor Diethard Tautz zum ersten Mal auf die dort für die Lebenswissenschaften verantwortliche Programm-Managerin Dr. Henrike Hartmann. Gemeinsam mit weiteren Mitarbeitern der Stiftung sprach man über mögliche Forschungsvorhaben in der Evolutionsbiologie. „Das Problem war nur: In Deutschland gab es zu wenige Projekte dieser Art”, erinnert sich Stephan. „Wir stellten fest, dass man erst einmal die Lehre an den Universitäten verbessern muss.” Im November 2004 fand dazu in Hannover auf Einladung der VolkswagenStiftung ein erstes Gespräch mit internationalen Experten statt – der Zündfunke für die „Initiative Evolutionsbiologie” (siehe auch das folgende Interview). Anfangs lief sie schleppend an, erreichte dann aber einen immer höheren Bekanntheitsgrad. Und als die Stiftung im Jahr 2007 den Ideenwettbewerb zum Darwin-Jahr 2009 startete, war Hartmann von der Resonanz überrascht. Neben einigen „allzu schrägen” Ideen gingen rund fünfzig diskutable Bewerbungen ein. „Nicht nur Wissenschaftler waren bereit, neben ihrer Forschung sehr viel Zeit in solch ein Projekt zu investieren”, sagt Hartmann. „Auch Künstler kamen auf die Stiftung zu, weil sie das Thema spannend fanden.” Am Ende siegten solche Bewerber, die wirklich den Sprung über die Grenzen der akademischen Welt zu schaffen versprachen und die von Anfang an kompetente Partner für die Umsetzung ihrer Ideen mitbrachten – etwa Ausstellungsmacher, Filmprofis und Musiker.
Es tut sich also etwas im mechanistisch gesonnenen Deutschland; es entwickelt sich etwas. Manchmal ganz allmählich. Und manchmal sogar auf höchster Ebene. So wurde aus einem Max-Planck-Institut für Limnologie (also Binnengewässerkunde) ein Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie. Solches geschah in Plön in Schleswig-Holstein, der Stadt am Plöner See, einem großen Binnengewässer. Manfred Milinski hat es miterlebt. Im Oktober 1999 zog er von Bern nach Norddeutschland. „Anfangs war ich der erste der neuen Richtung, der erste Evolutionsbiologe am Institut” , erinnert er sich. Dann vermehrte sich seine Spezies immer mehr, bis 2006 der letzte Limnologe ausschied und der Name geändert wurde. Inzwischen forscht auch der ehemalige Kölner Diethard Tautz in Plön. Und demnächst wird ein führender Evolutionstheoretiker als dritter Direktor berufen.
VON SEX UND MIKROBEN
Milinski selbst fischt in vielen Gewässern der Evolutionsforschung und macht dabei manch guten Fang. Zum einen geht er dem ewigen Rätsel nach, warum es überhaupt Sexualität gibt, genauer: warum sich die Natur das männliche Geschlecht leistet. „Männchen sind ein Luxus”, sagt er. Lässt man in einer Computersimulation eine sexuelle gegen eine asexuelle Art antreten, ist die sexuelle nach zehn Generationen ausgestorben. Der wichtigste Grund: Die asexuellen „Mütter” produzieren doppelt so viele Nachkommen wie die sexuellen. Bei letzteren sind die Hälfte der Nachkommen Söhne, die selbst weder Eier legen noch Kinder gebären. Man kann einwenden, dass die asexuelle Art doch auch Nachteile hat, etwa durch die Anhäufung schlechter Gene im Erbgut. Dies wirke sich aber, so Milinski, erst in etwa hundert Generationen tödlich aus – dieser Nachteil entsteht zu langsam, um die Sexuellen gewinnen zu lassen. „Also muss es noch einen anderen Vorteil der Sexualität geben”, sagt er. Folgt man einer Idee des im Jahr 2000 gestorbenen britischen Evolutionsbiologen William D. Hamilton, dann liegt jener Vorteil in der permanenten und selektiven Neuzusammensetzung der Gene, die für unser Immunsystem zuständig sind. Durch sexuelle Fortpflanzung können wir die Mischung dieser Gene an die ständig wechselnden Krankheitserreger anpassen. Bei der Partnerwahl scheinen wir auf diese Gene „zu achten” – wir „riechen” sie sozusagen.
Viele Fragen rund um den interessanten Zusammenhang von Krankheiten, Genen und Sex sind aber noch ungeklärt: viel zu forschen für Milinski und sein Team. Ihr Versuchstier dafür ist der Stichling, eine Reminiszenz an die Limnologie.
Ein anderes Interessengebiet des umtriebigen Max-Planck-Forschers ist die Entwicklung kooperativen Verhaltens unter Egoisten. Hier macht er gern den Sprung vom Versuchstier zum Menschen und arbeitet dabei eng mit Kolleginnen und Kollegen aus den Wirtschaftwissenschaften zusammen. „Bei den Ökonomen sind evolutionsbiologische Sichtweisen voll akzeptiert. Wir publizieren zu den gleichen Fragen.”
WER RETTET DAS KLIMA?
Zurzeit interessiert beide Seiten vor allem, inwieweit Menschen bereit sind, sich finanziell für den Klimaschutz einzusetzen – ein Investment, das sich für den Einzelnen nicht unmittelbar auszahlt, sondern im allgemeinen Interesse ist. Milinski entwarf dazu, diesmal in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Meteorologen Professor Jochem Marotzke, ein Klimaspiel-Experiment. Dessen Ergebnisse lassen gleichzeitig darauf hoffen und daran zweifeln, dass der Menschheit die Bewältigung der Klimakrise gelingen wird: Von zehn Gruppen zu je sechs Studenten erreichten im Experiment nur fünf das Ziel, den kritischen Gruppenbeitrag zur Rettung der Welt zusammenzulegen, fünf verfehlten es – wenn auch zum Teil nur knapp. Für Henrike Hartmann ist das ein schönes Beispiel dafür, wie die Evolutionsbiologie andere Wissenschaftszweige stimulieren und befruchten kann – nicht nur benachbarte Lebenswissenschaften wie die Infektionsmedizin, die Immunologie oder die Verhaltensforschung, wo der Zusammenhang unmittelbar einleuchtet. „Auch Soziologie, Philosophie und Psychologie profitieren von der Zusammenarbeit mit Evolutionsbiologen”, ist sie überzeugt.
Um solche Kooperationen zu ermöglichen, brauche es nicht unbedingt viele Fördermittel, meint Professor Michael Kohn. Der Experte für die Evolution genetischer Veränderungen ist in Deutschland zur Schule gegangen, hat hier Biologie studiert und lehrt heute an der Rice University in Houston, Texas (USA). „ Zählt man nur die Professoren, die das Fachgebiet Evolutionsbiologie explizit in ihrem Titel führen, kommt man in Deutschland wirklich nicht auf sehr viele”, sagt er. „ Berücksichtigt man dagegen alle Gruppen, die evolutionäre Prinzipien in ihrer Forschung anwenden oder sich von ihnen leiten lassen, sieht das Bild vermutlich viel besser aus.” Um sie zu vernetzen und für Studenten leichter zugänglich zu machen, schlägt Kohn die Einrichtung sogenannter Zentren für Evolutionsstudien vor: Das sind virtuelle Gemeinschaften aller am Thema interessierten Wissenschaftler einer Universität, die über gemeinsame Websites ihre Forschungen präsentieren und sich nur gelegentlich im echten Leben treffen müssen, beispielsweise zu Konferenzen. Kohn ist dabei, unter Einbeziehung nahe gelegener medizinischer Hochschulen ein solches Zentrum an seiner kleinen Universität mit aufzubauen. Er rechnet damit, „dass sich dadurch die effektive Zahl von Lehrkräften der Evolutionsbiologie von derzeit formal fünf auf – wer weiß – vielleicht fünfzig oder mehr erhöhen lässt”. Diese Form der wundersamen Evolutionsbiologen-Vermehrung legt er auch seinen deutschen Kollegen nahe. Es wäre eine Art Schwarmbildung aus Vertretern verschiedener Arten. Bei Zugvögeln hat sich ein solches Verhalten bereits herausgebildet – die Evolution ist erfinderisch. Der Mensch auch. ■
von Judith Rauch