Wir möchten, daß wir notwendig sind, daß unsere Existenz unvermeidbar und seit allen Zeiten beschlossen ist. Alle Religionen, fast alle Philosophien und zum Teil sogar die Wissenschaft zeugen von der unermüdlichen Anstrengung der Menschheit, ihre eigene Zufälligkeit zu verleugnen.” Doch für den französischen Molekularbiologen Prof. Jacques Monod, 1965 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet, gibt es keinen Grund anzunehmen, die Welt habe für das Leben einen Platz reserviert und es gezielt hervorgebracht. Im Gegenteil, sagt er, es sei ein einmaliger Glückstreffer in einem sonst unbelebten Kosmos, “in der teilnahmslosen Unermeßlichkeit des Universums”.
Monods zentrales Argument für die Zufallshypothese ist, daß die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung der Proteine und Erbmoleküle (DNA), die für alle irdischen Lebensformen notwendig sind, außerordentlich gering ist. So gering, daß sie im Universum wohl kein zweites Mal erfüllt wurde. Nach Monods Überlegung wäre es kein Wunder, wenn Leben überhaupt nicht entstanden wäre.
Um sich das Maß der Unwahrscheinlichkeit vorzustellen, kann Rubiks Cube helfen, ein Würfel, der je Seite aus neun Einzelwürfeln zusammengesetzt ist, jede Seite mit einer anderen Farbe. Die Teilstücke sollen verdreht werden, bis alle sechs Seiten des Würfels vollständig aus den Komponenten derselben Farbe bestehen. Wie lange muß man mit verbundenen Augen an diesem dreidimensionalen Puzzle arbeiten, bis man zufällig die Lösung gefunden hat? Die Antwort: unvorstellbar lange. Bei einer Drehung pro Sekunde würde es im statistischen Durchschnitt rund 1350 Milliarden Jahre dauern, um zum Erfolg zu kommen.
1350 Milliarden Jahre – das ist ungefähr das Hundertfache des Alters unseres Universums. Und doch übertrifft die Aussicht auf eine blinde Lösung beim Drehen von Rubiks Cube bei weitem die Wahrscheinlichkeit, daß sich auch nur ein einziges Protein durch Zufall gebildet hat: Eiweißmoleküle bestehen aus Aminosäuren, von denen es 20 Sorten gibt, die eine biologische Bedeutung haben. Da einfache Proteine aus etwa 100 Aminosäuren bestehen, sind dafür 20100 oder – auf die übliche mathematische Basis umgerechnet – rund 10130 Kombinationen möglich. Im gesamten beobachtbaren Universum gibt es aber nur etwa 1080 Atome.
Doch damit nicht genug: Höhere Lebewesen verwenden nicht eine Sorte von Eiweißmolekülen, sondern ungefähr 200000. Selbst die einfachsten Bakterien benötigen mindestens 400 Proteine.
Wir können also ziemlich sicher sein, daß der Bauplan der ersten, primitiven Lebensformen nicht durch den reinen Zufall eines molekularen Roulettes entstanden ist, das heißt durch die bloße Vermischung der chemischen Bausteine. Wie aber dann?
Dies ist nicht nur ein Problem der empirischen Forschung. Hier prallen verschiedene naturphilosophische Denkweisen aufeinander. Ist das Leben die Folge blinder Naturgesetzlichkeit, oder ein Produkt zielgerichteter Kräfte?
Teleologische Ansätze (vom griechischen “telos”, Ziel, Zweck) nehmen an, daß es solche Kräfte oder Gesetze gibt. Man kann zwei Arten von Zielgerichtetheit unterscheiden: eine von außen vorgegebene und eine der Materie selbst innewohnende. Die erste Art geht von einer planenden Instanz aus, einem kosmischen Drahtzieher, der die Ereignisse steuert. Er könnte beispielsweise aus den Abermilliarden von Möglichkeiten der komplexen Moleküle bewußt die wenigen ausgewählt haben, die für die ersten Organismen unerläßlich waren. Die Entstehung des Lebens wäre dann nicht auf eine Laune der Natur, sondern auf einen “göttlichen” Funken oder ein kosmisches Drehbuch zurückzuführen.
Die andere teleologische Variante nimmt an, daß die Materie von selbst bestrebt ist, ein bestimmtes Entwicklungsziel zu erreichen. Der griechische Philosoph Aristoteles hat dieses Prinzip vor 2300 Jahren als Entelechie bezeichnet (griechisch für “was sein Ziel in sich trägt”) und als ein Wesensmerkmal des Lebens postuliert. Bis heute berufen sich Vitalisten auf eine mysteriöse Lebenskraft, die sich physikalisch-chemisch prinzipiell nicht erfassen lassen soll.
Theoretisch denkbar ist aber auch, daß die Form der physikalischen Gesetze selbst ergänzungsbedürftig ist. Darüber hat der Physikprofessor Paul Davies von der University of Adelaide in Australien auf einer internationalen Konferenz über die chemische Evolution des Lebens im vergangenen Herbst in Triest spekuliert. Er schlug vor, die Naturgesetze durch eine teleologische Komponente zu erweitern, um das Zusammenspiel von Zufälligkeit und Spezifität der genetischen Information im Erbgut der Lebewesen zu erklären. Die extremste Auffassung stammt von den Panpsychisten. Sie glauben, letztlich sei alles belebt und beseelt, bis hin zu den Elementarteilchen – bei der Frage nach der Entstehung des Lebens handele es sich deshalb um ein Scheinproblem. Solche Behauptungen sind nicht nur vage und waghalsig, sie verbannen die Frage nach der Lebensentstehung auch genauso aus der empirischen Forschung, wie die Vorstellung eines absolut einmaligen Glückstreffers entgegen jeder Wahrscheinlichkeit.
Der Philosoph Prof. Bernd-Olaf Küppers von der Universität Jena weist beide Ansätze daher als unwissenschaftlich zurück: “Die Zufallshypothese ist grundsätzlich unbeweisbar, der teleologische Ansatz ist grundsätzlich unwiderlegbar.”
“Wenn Leben auf natürliche Weise entstanden ist, was die einzige wissenschaftlich zugängliche Annahme darstellt, dann muß sich sein Ursprung chemisch erklären lassen”, betont auch der belgische Zellbiologe Prof. Christian De Duve, der 1974 den Nobelpreis für Physiologie erhalten hat. “Die Chemie behandelt deterministische, reproduzierbare Phänomene, bei denen viele Milliarden einzelner Moleküle beteiligt sind. Ein einsamer Zufall mag mitunter ein sehr unwahrscheinliches Ereignis anstoßen. Bei der Entstehung des Lebens waren jedoch sehr viele Schritte notwendig. Einzelne Zufälle ereignen sich ständig, etwa der Hauptgewinn in einer Lotterie, aber die Chancen, daß sich solche unwahrscheinlichen Ereignisse so verketten, daß eine bestimmte Ordnung entsteht, werden mit der Anzahl wachsender Schritte ungeheuer gering.”
Die meisten Forscher sind daher überzeugt, daß es die Natur geschafft hat, durch die Selbstorganisation vorhandener Moleküle komplexe Systeme zu kreieren, die in der Lage sind, sich zu vermehren, zu verändern und mit der Umwelt Stoffe und Energie auszutauschen – notwendige Bedingungen für Leben. Doch wie diese Selbstorganisation abläuft, ist die große Frage. De Duve ist wie Monod – im Gegensatz zu den Teleologen – überzeugt, daß die bekannten Gesetze der Physik und Chemie ausreichen, um die Entstehung des Lebens zu erklären. Anders als Monod glaubt er aber auch, daß die Gesetze diese Selbstorganisation geradezu antreiben, komplexe Strukturen zu bilden, wo es nur geht. “Leben ist eine kosmische Zwangsläufigkeit.”
Die bislang überzeugendste Erklärung der Selbstorganisation überträgt Evolutionsprinzipien wie Mutation und Selektion auf die chemischen Verhältnisse der Urerde. Prof. Manfred Eigen, ehemaliger Direktor am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen, und der Chemiker Prof. Peter Schuster von der Universität Wien prägten dafür die Bezeichnung “Molekulardarwinismus”.
Ihr Ansatz versöhnt das Dilemma von Zufall und Notwendigkeit, ohne sich obskuren Kräften verschreiben zu müssen. Nobelpreisträger Eigen spricht von “der Begrenzung der Rolle des Zufalls in der Evolution”.
Die Evolution nutzt alles, was die Chemie ermöglicht. Die Selektion sorgt dafür, daß sich einfache Strukturen zu komplexeren weiterentwickeln. Manfred Eigen: “Die zufällige Mutation ist einem Ausleseprozeß unterworfen, und dieser trifft keine willkürliche Entscheidung. So sehr die individuelle Form ihren Ursprung dem Zufall verdankt, so sehr ist der Prozeß der Auslese und Evolution unabwendbare Notwendigkeit. Nicht mehr. Also keine geheimnisvolle Vitaleigenschaft der Materie. Aber auch nicht weniger – nicht nur Zufall.”
Zwar braucht man deshalb nicht gleich anzunehmen, das Universum wimmle nur so von Leben. Doch die Entstehung von einfachen Organismen könnte durchaus eine natürliche Konsequenz der planetaren und chemischen Evolution überall dort sein, wo bewohnbare Zonen mit flüssigem Wasser selbst für eine relativ kurze geologische Zeitspanne vorhanden sind.
Die Evolution des Lebens auf der Erde dürfte so, wie sie konkret verlaufen ist, einmalig sein und durch unzählige Zufälle bedingt gewesen sein. Aber daraus folgt nicht, daß es keine anderen und sogar ähnlichen Entwicklungen anderswo im Universum gegeben hat und noch geben wird.
Prof. Norman R. Pace von der University of California in Berkeley betont daher einen ganz anderen Gesichtspunkt: “Es geht vielleicht gar nicht darum, wie wahrscheinlich die Entstehung des Lebens ist, sondern wie wahrscheinlich es ist, daß Leben, das einmal entstanden ist, überlebt und seinen Planeten zu dominieren beginnt.”
Rüdiger Vaas