Die Worte klingen ernüchternd: „Auch Liebe besteht nur aus einer Abfolge von Nullen und Einsen”, sagt Dietrich Dörner, und seine grauen Augen funkeln dabei listig hinter der Brille. Der Psychologie-Professor an der Universität Bamberg vertritt die These, nicht nur das Denken, auch Wahrnehmen, Urteilen, Lernen, Lieben und Träumen setze sich aus informationstheoretischen Prozessen zusammen. Selbst die Seele sei nichts anderes als die Verarbeitung von 0-1-Sequenzen. Starker Tobak. „Gotische Dome, die Eismassen der Arktis, knorrige Eichen, duftender Kaffee: All das ist nur aus wenigen Arten von Elementarteilchen zusammengesetzt. Die Vielfalt kommt erst durch die vielen Verknüpfungen und Wiederholungen des Einfachen zustande”, argumentiert Dörner. „Warum soll es beim menschlichen Seelenleben nicht ähnlich sein?” Viel mehr, als 0 und 1 zu melden – Feuern oder Nicht-Feuern –, könnten unsere Nervenzellen schließlich nicht. So dröselt Dörner die Liebe, dieses hochkomplexe psychische Geschehen, in einzelne informationsverarbeitende Schritte auf. Selbst vor dem menschlichen Bewußtsein macht Dörner keinen Halt: „Technisch läuft das darauf hinaus, Protokolle des vergangenen Verhaltens und der inneren Vorgänge zum Objekt der Betrachtung zu machen, sozusagen das eigene Logbuch zu lesen. Daran ist nichts Geheimnisvolles.” Auch wenn dem Sechzigjährigen mit den blitzgescheiten Augen manchmal der Schalk im Nacken zu sitzen scheint, fällt es schwer, ihm zu widersprechen. Dabei wirkt der Psychologe nicht wie ein selbstverliebter Ordinarius, sondern wie einer, mit dem man gerne noch ein Bier trinken geht. Und auch „auf dem Keller” – so der Bamberger Ausdruck für „im Biergarten” – bleibt das Gespräch anregend, sei es über die oberfränkische Geschichte oder über das deutsche Verlagswesen. In seinem jüngsten Buch „Bauplan für eine Seele” beschreibt Dörner detailliert, wie sich eine Maschine konstruieren ließe, deren Denken sich kaum von dem des Menschen unterscheidet. Äußerlich hat sie dagegen wenig Menschliches an sich. Sie rollt auf Rädern, angetrieben von einer Dampfmaschine. In Anspielung an die Psychologie bezeichnet Dörner die Kreatur mit dem griechischen Buchstaben Psi. Ausgehend von den Grundbedürfnissen nach Nahrung und Wasser entwickelt er am Computer Schritt für Schritt, was der künstliche Organismus alles braucht: Wahrnehmung, Vorstellung, Entscheidungsfindung, Gefühle, soziale Kontakte, Lernen, Sprache und Selbstreflexion. Dörner konstruiert Psi dabei aus einfachen Elementen und Verschaltungen, die dem Geflecht der Nervenzellen im Gehirn nachempfunden sind. In dem flüssig geschriebenen 800 Seiten dicken Bauplan („da habe ich alles hineingepackt, was ich in meinem Forscherleben über den menschlichen Geist herausgefunden habe”) bedient sich der Psychologe oft einer Ingenieursprache, um darzulegen, wie Psi funktioniert. Erste Versionen des künstlichen Intellekts hat er im Computer bereits zu – virtuellem – Leben erweckt. Der Stuttgarter Informatiker Paul Levi, der sich wie viele Ingenieure auf den „Bauplan” hin bei Dörner meldete, schlug ihm sogar vor, gemeinsam Psi als Roboter in die wirkliche Welt zu setzen. Unter den Psychologen sei die Reaktion auf das Buch „nahe Null” gewesen, berichtet Dörner. Die Enttäuschung darüber ist ihm anzumerken. Unter Philosophen wird das Buch dagegen heftig diskutiert. Streitbar zu sein, ficht den Bamberger nicht an. Einfach ignoriert zu werden, wurmt ihn indes. Schon als Schüler stolperte Dietrich Dörner über das Buch „Die Mechanik des Denkens” von Walther Rathenau. Der humanistisch erzogene Jüngling fand den Titel unerhört und beschloß, dem nachzugehen und Psychologie zu studieren. Noch während seines Studiums an der Universität Kiel begann der gebürtige Berliner mit dem Computer das menschliche Denken nachzubilden. Mit Kommilitonen schrieb er ein Programm, das ähnlich wie das Gehirn Begriffe wie rund, eckig, rot und grün bilden konnte. Die Mathematiker hätten ihn damals belächelt, erinnert er sich. Anfang der sechziger Jahre war der Rechnerraum nahezu ausschließlich ihre Domäne, Psychologen jedenfalls verirrten sich nicht dorthin. In seiner Habilitation ließ Dörner Versuchspersonen die fiktive Kleinstadt Lohhausen verwalten. Er wollte damit das menschliche Verhalten in komplexen Situationen ergründen. „Mich interessieren die Prozesse, die beim Denken oder Entscheiden ablaufen”, sagt er in seiner lebhaften Art. „Die normale Psychologie tut hingegen alles, um die Prozesse loszuwerden.” So messe sie etwa Intelligenzquotienten. In Lohhausen habe die Leistung der Probanden indessen in keinerlei Zusammenhang mit ihrem Intelligenzquotienten gestanden. Auch davon, daß viele seiner Kollegen scheinbar harte Zahlen in Wirklichkeit nur per Umfragen ermittelt haben, hält der Bamberger überhaupt nichts. Er selbst habe das noch nie gemacht. Die psychologische Forschung findet er nicht zuletzt wegen der vielen Umfragen in weiten Strecken langweilig. Daß er unter seinen Kollegen eine Außenseiterrolle spielt, kümmert ihn wenig. In einem anderen Planspiel Dörners sollten Versuchspersonen die Lebensbedingungen eines hypothetischen afrikanischen Stammes – der Moros – verbessern. Anders als realen Entwicklungshelfern standen ihnen dabei nahezu unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung. Dennoch verschlimmerten die meisten die Situation nur noch, wie Computersimulationen ergaben, die das Geschehen mehrerer Jahre in Minutenschnelle durchrechneten. Sie investierten in Hygiene und medizinische Versorgung, ohne zu bedenken, daß dies nach wenigen Jahren einen Anstieg der Bevölkerung und damit massiven Nahrungsmangel verursachte. Was in komplexen Situationen, wie bei der Verwaltung von Lohhausen oder der Entwicklungshilfe für die Moros, alles schiefgehen kann, darüber schrieb Dörner, der ursprünglich Journalist werden wollte, einen Bestseller. Sein Vater, der im Verlagswesen arbeitete, habe ihn dazu angestiftet, nachdem er sich einmal nach der Auflagenhöhe seiner wissenschaftlichen Werke erkundigt hatte. Angesichts der mickrigen Zahlen habe sein Vater ihn aufgefordert, sich doch mal an einen größeren Leserkreis zu wenden. Inzwischen ist Dörners „ Die Logik des Mißlingens” in sechs Sprachen übersetzt und allein hierzulande 100000mal verkauft worden. In Managerkursen greifen die Dozenten oft auf das Bändchen zurück, da es an vielen plastischen Beispielen zeigt, daß Intelligenz und guter Wille allein nicht ausreichen. Trotz seiner Außenseiterstellung reussierte Dörner in der akademischen Welt. 1986 erhielt er als erster Psychologe den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, und 1989 wurde er als Leiter der Projektgruppe „Kognitive Psychologie” der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin berufen. Eigentlich hätte daraus ein Institut entstehen sollen. Doch Querkopf Dörner verstand sich nicht mit dem anderen Leiter der Gruppe und kehrte nach knapp zwei Jahren auf seinen Lehrstuhl nach Bamberg zurück. 1998 erhielt er einen Ruf an das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung. Dort hätte er politische Massenphänomene, zum Beispiel den Nationalsozialismus, psychologisch untersuchen sollen. Sein Arbeitsziel war auch schon formuliert: Er wollte mehrere tausend abgespeckte Versionen seiner Seele aus dem „Bauplan” programmieren und mit ihnen Geschichte nachspielen. Schweren Herzens lehnte er dann aber doch ab, weil er befürchtete, angesichts seines Alters nicht mehr genügend Zeit zu haben und sich schon kurz nach dem Aufbau seiner Arbeitsgruppe in Potsdam in den Ruhestand verabschieden zu müssen. Statt zu Tausenden fährt in Dörners Computer in Bamberg bislang nur ein einziges Fünfmarkstück großes Exemplar von Psi hin und her. Das künstliche Wesen erinnert an einen Bagger. Es rumpelt auf dem Bildschirm über eine Insel, auf der es gerade erst gelandet ist und nun versucht, sich zurechtzufinden. An welchen Büschen wachsen nahrhafte Nüsse? Und wo sind Pfützen, aus denen es mit seinem Rüssel Wasser schlürfen kann? Als Psi einen Busch mit Nüssen übersieht, sagt Dörner: „Daran ist er selber schuld.” Als das Gefährt wenig später auch noch an einer Wasserlache vorbeirollt, entfährt ihm ein knappes „Idiot”. Der Psychologe kommentiert die Aktionen der Maschine wie die eines Menschen. Psi ist ja auch nicht einfach Teil eines Computerspieles, sondern nach dem Vorbild des Homo sapiens programmiert. Das Ungetüm bekommt nicht nur nach einiger Zeit Hunger und Durst, sondern kann auch Gefühle wie Wut oder Enttäuschung empfinden: Wenn ihm gerade gar nichts gelingen will, rüttelt es aus reiner Wut an einem Baum oder zerstört einen Busch, nur um zu spüren, daß seine Taten auch Wirkung zeigen. Zuweilen schlägt bei Psi auch die Logik des Mißlingens unerbittlich zu: Immer wieder mal findet die Maschine nicht genug zu essen – und verhungert kläglich. Rechts oben auf dem Monitor ist ein stilisiertes Gesicht zu sehen. Es zeigt, wie es Psi gerade geht. Entdeckt die Maschine etwas Neues, gucken einen große fragende Augen an. Hat sie erkannt, was sich damit anfangen läßt, blickt das Gesicht zufrieden drein. Nehmen Hunger oder Durst überhand, sieht es eher leidend aus. Über die Lautsprecher gibt Psi nicht nur Klopf-, Raschel- und Schlürfgeräusche, sondern auch seine Sicht der Welt zum besten: „Was kann man da machen?” „ Ich bin ratlos.” „Mal überlegen.” „Blöd.” „Hatten wir schon.” Richtig sprechen kann der Bagger indes nicht. Er vermag lediglich zwischen ein paar Phrasen zu wählen und so dem Beobachter etwas über seine Gedanken und Gefühle mitzuteilen. Ein paar Türen neben Dörners Büro rollt Psi auf einem überdimensionalen Fernsehbildschirm über die Insel. Hier wird die Maschine von einer Versuchsperson gesteuert. Links unten auf dem Bildschirm ist das Gesicht von „Baggerführerin” Angelika eingeblendet, das eine Videokamera in dem abgeschotteten Kabuff aufnimmt, in dem sie sitzt. Ihre Mimik spiegelt ähnlich wie das stilisierte Gesicht auf dem Bildschirm in Dörners Büro den Überlebenskampf der Maschine auf dem Eiland wider. Läuft es gut, lächelt Angelika, leidet ihr Schützling an Hunger oder Durst, bekommt ihr Gesicht einen angestrengten Ausdruck. Auch ihre Kommentare klingen vertraut: „Wo gehen wir jetzt hin?” „Mist.” „Das ist ja cool.” „Da war ich auch schon.” „Mit den Versuchen kontrollieren wir, ob sich Psi wie ein Mensch verhält”, erklärt Dörner. „Im Moment ist die Maschine noch zu clever.” Mit leichten Korrekturen am Programm ließe sich das aber beheben. Der Psychologe plant, künftig Psi mit verschiedenen Charakteren auszustatten, die sich dann im Überlebenskampf bewähren müßten, etwa einem mutigen, einem nachdenklichen, einem verängstigten, einem impulsiven. Dem künstlichen Computerwesen fehlt im Vergleich zu seinem Vorbild im „Bauplan für eine Seele” noch einiges: Bewußtsein etwa, Sozialleben und Sprache. Letztere hält Dörner für besonders wichtig, da für ihn Denken daraus besteht, sich selbst Fragen zu stellen. Das müsse man Computern beibringen, um ihnen Intelligenz zu verleihen, wie es Ingenieure seit Jahrzehnten vergeblich versuchen. Dann könnten sich die Elektronenhirne selbst Wissen über alles Mögliche verschaffen. Bis zu seiner Emeritierung will Dörner ein Programm präsentieren, das nicht nur Emotionen und Intellekt besitzt, sondern auch Sprache und Bewußtsein. Die Maschine würde die menschliche Psyche ein für allemal aufdröseln, behauptet Dörner. „Dann ist die Psychologie am Ende angelangt, und ich kann getrost in Ruhestand treten.” Ob er das ernst meine? „Halbernst”, antwortet er und lächelt schelmisch.
Wolfgang Blum / Dietrich Dörner