Wir sind, so ist immer wieder zu hören, auf dem Weg in die Informationsgesellschaft. Doch welche Folgen hat das für die Wissenschaft? Können wir in einer solchen Gesellschaft immer noch den Anspruch erheben, als Forscher das Fundament für eine rationale Weltdeutung der Menschen zu legen? Was aber sonst könnte das Ziel von Bildung und Ausbildung sein?
Unterstellt, es entwickelte sich tatsächlich eine Gesellschaft, deren zentrale wirtschaftliche Ressource die frei verfügbare Information und ihr rascher weltweiter Transport wäre. Unterstellt, vor uns liegt eine Gesellschaft, die über Information neue Sozialformen entwikkelt, die also in Politik, Kultur, Wissenschaft und Alltag vom raschen und ausreichenden Informationsfluß aus allen Ländern abhängig ist. Unterstellt, das Wort InformationsgeselIschaft wäre nicht nur ein praktischer Verständigungsbegriff für eine mit Datengeräten durchsetzte Gesellschaft – dann wäre das Bildungsziel dieser Gesellschaft sicher keine wissenschaftliche Weltdeutung, sondern diesem Ziel sogar deutlich entgegengesetzt.
Was derzeit geschieht und eher verharmlosend “Entwicklung der Informationsgesellschaft” genannt wird, ist eine weltweite Bewegung von sozial- und kulturrevolutionärer Kraft, die vermutlich mit dem Übergang von der Schrift- zur Druckkultur verglichen werden kann. Diese Bewegung wurde durch die Wissenschaft ausgelöst, wird aber keineswegs von ihr beherrscht, weil es eine wirtschaftliche Bewegung globalen Ausmaßes ist. Der Prozeß dieser Bewegung wird in Gang gehalten von der weltweit – auch und gerade in Schwellenländern verbreiteten – High-Tech-Industrie. Wir gehen in ein neues Zeitalter der Unsicherheiten und Unwägbarkeiten, das ich durch sieben Thesen vorstelle:
These 1: Das Ende des gebildeten Bürgertums Wenn die meditative Privatlektüre, wie sie nach der zweiten Leserevolution durch billig zu erwerbende Bücher im 19. Jahrhundert möglich wurde, tatsächlich der Königsweg der bürgerlichen Individuation war, wie Jürgen Habermas sagte, dann endet mit der Ära Gutenbergs, also mit der gedruckten Verbreitung des Wissens durch den Übergang zur elektronischen Verbreitung des Wissens die Epoche des gebildeten Bürgertums. Und mit ihr endet das Zeitalter eines bürgerlichen Eurozentrismus. Die Gravitationsfelder der Welt, die wirtschaftlichen wie die geistigen, haben sich aus dem Westen in den Osten verschoben.
These 2: Neue Regionen prägen sich jetzt Die Globalisierung des in der Weltwissenschaftssprache “broken English” verbreiteten Wissens hat die Tendenz, kulturelle Unterschiede zu verwischen und sie in regionalisierter Form stärker denn je kompensatorisch wieder zu stimulieren. Die Beobachtung, wie die nationalstaatlichen Gebilde Europas in Regionalkulturen zu zerfallen beginnen, ist eine unmittelbare Folge dieser Globalisierung. Anders ausgedrückt: Die Tendenz zu überstaatlicher Vereinigung, die durch Einheitssprache und Kommunikationsnetze gestützt wird, trägt zur Entstehung neuer grenzüberschreiten-der Regionen bei. Solche Vorgänge sind zu beobachten in Belgien, Italien und Spanien, aber durchaus auch in Deutschland.
These 3: Wer Rechte hat, beherrscht die Welt Die Kommunikationswege – so hat Hermann Lübbe festgestellt – haben sich von den Verkehrswegen endgültig abgelöst. Eine unmittelbar sichtbare Folge davon sei die Musealisierung unserer Innenstädte. Die Dimensionen der Speicherräume des Wissens sind ins Unermeßliche gestiegen. Wem es gelingt, auf den virtuellen, nur im Computer bestehenden Claims Eigentumsrechte zu erwerben, oder auf den Informationsstraßen seinen Zügen Vorfahrt zu verschaffen, der hat damit wirtschaftliche Vorteile bisher nicht gekannten Ausmaßes. Für diese die Welt bewegende Entwicklung gibt es nur zwei Bilder, die ungefähr verdeutlichen, was geschieht: der Goldrausch in den USA im 19. Jahrhundert und der Turmbau zu Babel, den wir heute “Internet” nennen.
These 4: Die Weiche stellt der Daten-Agent Die Massenhaftigkeit der Information, die uns Zugang zu 15000 Fernsehprogrammen, zu Millionen digitalisierter Buchseiten, zu Milliarden von Zeitungsseiten geben wird, ruft nach Informations- und Wissens-“Navigatoren”. Die erfahrenen Navigatoren sollen für uns im Ozean der Informationen die bewohnbaren Inseln suchen. Man kann es auch anders verdeutlichen: Diese Prospektoren sollen in den riesigen Schutthalden der Informationsgebirge für uns die wenigen notwendigen Edelsteine finden. Die Märkte der Zukunft wird der beherrschen, der die intelligenten Informations-Suchmedien erfindet, welche die für die nachfragende Person nötige Information zur rechten Zeit am rechten Platz bereitstellen.
These 5: Ein neues Forschungsethos ist nötig Die Bildung des bürgerlichen Zeitalters – und mit ihr die große weltbewegende Erfindung des Individuums – war durch Sprache und Literatur vermittelt. Seit Alexander von Humboldt, Hermann von Helmholtz, Max Planck und anderen waren auch die Ergebnisse der Naturwissenschaft sprach- und damit bildungsorientiert. Demgegenüber sind die weltweit verbreiteten Forschungsergebnisse der modernen Natur- und Lebenswissenschaften primär ergebnisorientiert. Diese Ergebnisse schließen zunehmend schneller den Abstand zwischen Entdekkung und Anwendung, der einer kritischen Verantwortung bisher zugänglich war. Ob die Forderung “Risikoabschätzung schon im Stadium der Grundlagenforschung” als Heilmittel dagegen genügt, ist zweifelhaft, solange nicht ein völlig neues Forschungsethos im Konsens der forschenden Völker der Welt hergestellt ist. Die Bemühungen – etwa des Europarates – um bioethische Konventionen müßten daher politisch unterstützt werden.
These 6: Die Arbeitswelt wird völlig umgebaut Eli Noam hat verdeutlicht, daß sich unter dem Einfluß der modernen Kommunikationsmedien die Bewegungsrichtungen des täglichen Lebens umzukehren beginnen. Bisher sind wir zur Arbeit gegangen, jetzt kommt die Arbeit als Telearbeit zu uns – mit allen Folgen für den Begriff des Betriebes, der Betriebsgemeinschaft, für soziale Sicherung der scheinselbständigen Arbeitnehmer oder für die Gewerkschaftsbewegung. Bisher sind wir zu Konferenzen um die Welt gereist, jetzt ist es möglich, zu Hause virtuell am Bildschirm an Kongressen teilzunehmen und sich in die Diskussionen einzuschalten. Bisher sind wir dem Wissen in Schulen, Universitäten und Bibliotheken nachgegangen, jetzt können wir dieses Wissen zu uns auf den Bildschirm holen. Daß kompensatorisch dazu die Sehnsüchte nach den alten Zeiten wachsen, versteht sich von selbst. Wie der Druck die Handschrift nicht zerstört, sondern in Form des kostbaren Originalmanuskripts gleichsam neu erfunden hat, so wird die Telearbeit nicht die Betriebsgemeinschaft, der Teleunterricht nicht die Figur des Lehrers, die Teleinformation nicht das persönliche Gespräch zerstören. Aber sie werden seltener erlebt, sind damit wertvoller und die Begegnung mit ihnen wird vielleicht tiefgründiger werden.
These 7: Das Sozialverhalten wird neu definiert Damit ist deutlich, daß die Propheten der Vernetzung zu Recht behaupten, Informatisierung und Vernetzung führe nicht nur zu besserer und schnellerer Kommunikation, sondern ziele letztlich auf die grundlegende Änderung der sozialen Netze, der Sozialbeziehungen, des Sozialverhaltens weltweit. Jene Weltbürger-Gemeinschaften, von denen frühere Zeiten geträumt haben, scheinen sich zusammenzufinden, zunächst in Netzgemeinschaften kleiner Gruppen – mit allen Vorteilen und Nachteilen für das Sozialverhalten des Menschen.
In der gewaltigen wirtschaftlichen Bewegung, die unumkehrbar abläuft, ist die Wissenschaft kein Steuerungsele-ment und kaum ein Deutungselement. Sie ist ein Antriebsrad des Prozesses und muß dies sein, weil die wirtschaftliche Entwicklung von ihr abhängig geworden ist. Sie wird aber zugleich versuchen, diesen Prozeß kritisch zu verfolgen oder – anders ausgedrückt – sich ein Wissen von sich selbst zu verschaffen. Dies ist die einzige mich bisher überzeugende Definition des Begriffes Orientierungswissen von Jürgen Mittelstraß.
Medienkompetenz zu erwerben, heißt nicht, die Multimedia-Welt technisch bedienen zu können, sondern sich ihrer verantwortlich und kritisch zu bedienen. Dabei ist es tröstlich zu hören, daß Medienkompetenz hat, wer zuvor Lesekompetenz erworben hat, wer also einen Text nicht nur buchstabieren, sondern ihn lesen, verstehen, vielleicht sogar analysieren kann. Das Bildungsziel der Universität (aber auch schon der Schule) wird also lauten müssen: kritische Urteilskraft.
Das bedeutet für die Universität, daß sie die ungemein schwierige Rollenverteilung zwischen Teilhabe am und Kritik des Wirtschaftsprozesses zu leisten hat. Sie muß die Rolle zwischen Betrieb – im Sinne von Forschungsfabrik – und Republik meistern, weil nur eine republikartige Verfassung der Universitäten die nötige kritische Distanz zum eigenen Tun verbürgt. Die Universität nämlich bildet im Modell den geschilderten Entwicklungsprozeß in sich selbst ab und macht ihn damit der Kontrolle erst zugänglich – durch die Neugier immer neuer Studentengenerationen.
Wolfgang Frühwald