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DER SCHALTPLAN DER VERFÜHRUNG

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DER SCHALTPLAN DER VERFÜHRUNG
Der Neurogenetiker Barry Dickson und seine Mitarbeiter im Institut für Molekulare Pathologie in Wien suchen im Gehirn von Fliegen nach den molekularen Wurzeln des Verhaltens.

Drosophila melanogaster, die Essig-, Tau- oder Fruchtfliege, hat sich um die Wissenschaft verdient gemacht. Vielen Forschergenerationen hat die „schwarzbäuchige Liebhaberin des Taus”, so die wörtliche Übersetzung ihres Namens, schon als Labortier gedient. Große Fragen der Biologie konnten mit dem kleinen Wesen beantwortet werden, etwa wie Gene die Entwicklung eines komplexen Organismus aus einer einzigen befruchteten Eizelle vorantreiben. Jetzt ist Drosophila daran beteiligt, das bislang unlösbare Rätsel des Lebens zu lösen: Wie steuern Gene das Verhalten?

Methodisch ist das noch immer eine Herausforderung, weil das Verhalten eines Lebewesens nie allein von den Genen, sondern stets auch von vielen Umwelteinflüssen bestimmt wird. Das macht das Forschungsfeld unübersichtlich und zwingt zur Reduktion. Daher bietet sich Drosophila als Modell geradezu an: Sie hat nur vier Chromosomen und dennoch ein reichhaltiges Verhaltensrepertoire. Die genetisch ausgerichteten Verhaltensforscher von heute sind nicht mehr in erster Linie daran interessiert, wie Lebewesen miteinander oder in ihrem Umfeld agieren, sondern sie versuchen herauszufinden, in welcher Weise Körper und Geist stofflich miteinander verbunden sind und Verhalten schaffen: Wie sieht sie aus, die molekulare Reaktionskette, die von einem Gen zum Lachen oder Weinen, zu einem Gedicht oder Lied, einer Entscheidung, einer grüßend erhobenen Hand oder zur Auswahl eines Liebespartners führt?

Forscher um den Neurobiologen Barry Dickson gehen diesen Fragen nach. Der 49-jährige Australier leitet seit 2006 das zu Boehringer Ingelheim gehörende Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie in Wien. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern erforscht er die genetischen und neuronalen Grundlagen komplexer angeborener Verhaltensmuster. Die regelmäßig in renommierten wissenschaftlichen Fachjournalen veröffentlichten Arbeiten der Wissenschaftler haben immer wieder Aufsehen erregt.

Barry Dickson deutet auf ein großes Bild, das an der Wand seines Arbeitszimmers hängt und eines der jüngsten Resultate seiner Forschungsarbeiten visualisiert. Es zeigt das Gehirn von Drosophila. In Wirklichkeit misst es kaum einen halben Millimeter, auf der Abbildung aber sieht es aus wie ein riesiger grauer, von bunten Wollfäden umspannter Blumenkohl. Die bunten Fäden repräsentieren Nervenzellen, die nach Art eines elektronischen Schaltkreises miteinander verbunden sind: „Was hier zu sehen ist, sind alle Nervenzellen, die an der Balz der Fliege beteiligt sind – einem sehr komplexen angeborenen Verhalten”, sagt Dickson. Insgesamt umfasst das neuronale Netz etwa 1500 Nervenzellen, die sich während der Entwicklung auf Anweisung der Gene zusammengefügt haben und im erwachsenen Fliegenhirn die von den Sinnesorganen eintreffenden Signale verarbeiten sowie die Muskeln dazu anregen, sich zu bewegen: Ein Schaltplan der Verführung, der – erstmals – den Weg vom Gen zur Nervenzelle und von der Nervenzelle zum Verhalten nachvollziehen lässt.

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Ein Stockwerk tiefer demonstriert Anne von Philipsborn, was passiert, wenn der Schaltplan in Aktion ist. „Achtung, gleich beginnt die Peepshow!”, sagt die Biologin und startet mit einem Knopfdruck den Film. Auf dem Bildschirm erscheinen Hunderte munter umher krabbelnder Fruchtfliegen, jede einzelne kaum größer als ein Fußnotensternchen. Das geschäftige Gewusel der Fliegen wirkt unübersichtlich. Anne von Philipsborn aber erkennt mit erfahrenem Blick einige Fliegen, die sich zu Paaren zusammengefunden haben: Die Weibchen laufen voraus, die Männchen hinterher. Ein Männchen hat ein Weibchen eingeholt, positioniert sich seitlich, streckt dem Weibchen seinen Flügel entgegen und lässt ihn vibrieren. Dann eilt das Männchen auf die andere Seite und schüttelt erneut seinen Flügel.

Das Werben läuft wie EIN UHRWERK AB

Das eindringliche Werben um die Gunst des Weibchens dauert lange. Immer wieder nähert sich das Männchen. Das Weibchen ziert sich eine Weile. Schließlich gibt es den Avancen nach und erlaubt die Kopulation. Das gesamte Ritual von Vorspiel und Begatten ist genetisch bis in die Details vorgegeben. Wie ein Uhrwerk nimmt es immer wieder denselben Lauf. Der Schaltkreis dazu ist im Fliegenhirn gespeichert: Das Insekt hat die Verhaltensweise mitsamt seinem Körper geerbt.

Anne von Philipsborn ist besonders an dem Element des Balzrituals interessiert, das entscheidend für den Paarungserfolg ist: die Flügelvibrationen des Männchens. Das Männchen schüttelt seine Flügel nicht nach Lust und Laune, seine Vibrationen gehorchen einem einprogrammierten neurogenetischen Plan. „Sie sind mit dem Singen eines Liedes vergleichbar”, erklärt die Biologin. Die „Lieder” der Fliege haben einen Rhythmus, ein verstecktes Muster, das die singende Fliege jederzeit einhält. Zum Beweis schaltet Anne von Philipsborn einen Lautsprecher an, der das Minnelied des Fliegenmännchens verstärkt und für das menschliche Ohr hörbar macht. Die Fliegenweibchen empfangen die Gesangsdarbietungen über ihre Antennen, ihre tonempfindlichen Organe.

EIN GEN GIBT DEN TAKT VOR

Ein Knattern ist zu hören. „Das ist der Pulssong” erläutert Philipsborn. Ein helleres Summen in schnellerem Rhythmus mischt sich dazu: der „Sinussong”. Puls- und Sinussong wechseln sich in charakteristischer Weise miteinander ab. „Die Lieder der Männchen von Drosophila melanogaster klingen alle gleich”, sagt Anne von Philipsborn. Ausschlaggebend für den Fortpflanzungserfolg eines Männchens sei der Pulssong mit seinen exakt im Abstand von 35 Millisekunden gesetzten Tönen. Doch die Wissenschaftler können Drosophila-Mutanten erzeugen, die völlig anders singen. Dazu schalten sie im Erbgut der Fliegenmännchen diejenigen Gene aus, die wie ein Metronom fungieren und den gleichmäßigen Rhythmus vorgeben. Ohne diese Gene gerät das Liebeslied der Fliege aus dem Takt.

Der Gesang ändert sich auch, wenn das Takt gebende Gen einer von Haus aus im flotten Allegro-Tempo singenden Drosophila-Art in das Erbgut von Drosophila melanogaster eingeschleust wird: Die normalerweise in gemäßigtem Tempo singenden Drosophila-melanogaster-Männchen wechseln dann zu einem schnelleren Gesang. Pech für sie: Die Weibchen finden die hektischen Troubadoure uninteressant. Sie sind nur an Männern interessiert, die „den richtigen Ton” treffen.

DER BAUCH KOMPONIERT DEN GESANG

Anne von Philipsborn ist es kürzlich gelungen, den Schaltplan der Verführung durch genau die Schlüsselneuronen zu ergänzen, die das Fliegenmännchen artgerecht zum Singen bringen. Einige dieser Nervenzellen befinden sich im Gehirn. Dort empfangen sie die Signale von den Sinnesorganen, verrechnen sie und treffen die Entscheidung: „Jetzt singen!” Weitere Nervenzellen sitzen in für Insekten typischen Nervenzellgeflechten, den Bauchganglien. Sie „ komponieren” den Balzgesang, koordinieren das Zusammenspiel der Muskeln und erzeugen das typische rhythmische Muster. Anne von Philipsborn hat mithilfe molekularbiologischer Tricks die Kontrolle über die Aktivität der Nervenzellen erlangt: Mit einer Art wärmeempfindlichem Gen-Schalter kann sie die für den Fliegengesang verantwortlichen Nervenzellen gezielt anschalten. Wie ferngesteuert geraten die Fliegenmännchen dann in Verzückung und absolvieren ihr Balzritual – ohne ein einziges Weibchen weit und breit, das sie dazu animieren würde.

In der Natur singen nur Fliegenmännchen. Im Labor aber kann man auch die Weibchen zum Singen bringen. Und zwar dann, wenn man ihnen die männliche Variante eines Gens mit dem Namen „fruitless” (kurz: „fru”) überträgt. Durch das implantierte Gen präsentieren die Weibchen nicht nur wie Männchen die Flügel. Sie zeigen auch sonst das gesamte Repertoire männlichen Werbeverhaltens und schwärmen fortan aus, um Geschlechtsgenossinnen zu umgarnen. Selbst das Aggressionsverhalten der mit der männlichen Gen-Variante bestückten Weibchen gleicht sich an. Sie kämpfen wie Männchen und wehren Konkurrenten durch eine Art Boxen ab, während genetisch unveränderte Weibchen ihre Rivalinnen mit Kopfstößen verdrängen.

MÄNNCHEN TANZEN POLONAISE

Wird „fru” im Erbgut männlicher Fliegen auf eine bestimmte Art manipuliert, lassen sich Fliegenmännchen erzeugen, denen das Interesse am anderen Geschlecht gänzlich fehlt. Stattdessen machen sie ihren männlichen Geschlechtsgenossen den Hof und legen ein äußerst ungewöhnliches Verhalten an den Tag: Die Mutanten singen sich gegenseitig so lange Liebeslieder vor, bis sich alle wie in Trance hintereinander aufreihen und in langen gewundenen Schlangen nach Art einer Polonaise durch die Beobachtungskammern ziehen. Den letzten Schritt der Verhaltenskette lassen die genmanipulierten Männchen jedoch aus: Sie versuchen nie, miteinander zu kopulieren. Offenbar sind ihnen Musik und Tanz wichtiger als Sex.

„Fruitless” galt schon lange als Schlüssel-Gen des Sexualverhaltens. Barry Dickson bewies 2005 erstmals, dass „ fruitless” das komplizierte Paarungsverhalten von männlichen und weiblichen Fruchtfliegen als „Master-Gen” entscheidend lenkt. Dass ein einzelnes Gen offenbar ausreicht, um Nervenzellen zu Schaltkreisen zu verdrahten und sexuelle Präferenzen zu steuern, war eine Überraschung. Heute wissen die Forscher, dass „fruitless” von allen Nervenzellen, die den „Schaltplan der Verführung” stellen, abgelesen und in ein Protein übersetzt wird. Zu den jüngeren Befunden der Wiener Forscher gehört, dass auch das Verhalten schwangerer Fliegenweibchen unter der Oberhoheit der Gene steht: Naturgemäß sind Fliegenweibchen nach der Begattung nicht mehr an Sex interessiert und stecken ihre Energie lieber in den Nachwuchs. Entfernt man aber ein Gen namens SPR aus ihrem Erbgut, verhalten sie sich wieder so, als wären sie Jungfrauen.

WEIBCHEN ACHTEN AUF DIE ERNÄHRUNG

Sich fortzupflanzen – das ist das wichtigste Ziel von Lebewesen aller Art. Wer sich fortpflanzen will, muss sein Überleben sichern, und wer überleben will, muss essen. Wen wundert es, dass auch dieses zum Basis-Repertoire gehörende Verhalten genetisch anscheinend bis in die kleinsten Einzelheiten vorgegeben ist.

Für einen Organismus ist es wichtig, genau die Nährstoffe zu erhalten, die er abhängig von seiner jeweiligen Funktion gerade braucht. Er muss also unter verschiedenen Angeboten wählen – und eine Entscheidung treffen. Der Neurogenetiker Carlos Ribeiro hat im „Verhaltensraum” des Instituts für Molekulare Pathologie in Wien viele Wochen lang Fruchtfliegen beim Fressen zugeschaut und dabei festgestellt, dass sich die Ernährungsgewohnheiten der Tiere je nach Nährstoffbedarf des Körpers ändern. Ganz besonders gilt das für befruchtete Weibchen: Sie reagieren sehr sensibel auf den aktuellen Bedarf ihres Körpers und ihres Nachwuchses. Generell gilt: Offeriert man Drosophila einen Speiseplan mit genügend Zucker und Proteinen, bevorzugt sie die zuckerreiche Nahrung. Setzt man die Fliegen aber einige Tage auf eine proteinarme Diät, bevorzugen sie danach proteinreiches Futter – genau wie ein Mensch, der nach einer einseitigen Diät nach dem Nahrungsmittel lechzt, auf das er so lange verzichten musste.

Doch woher weiß die Fliege, was ihrem Körper fehlt? Als wichtiger Informant erwies sich ein molekularer Sensor im Gehirn, der regelmäßig prüft, ob der Körper ausreichend mit Proteinen versorgt ist. Noch haben die Wissenschaftler nicht ganz verstanden, wie der Fühler das Verlangen nach proteinreicher Nahrung steuert. Rund 500 Gene haben sie ausgemacht, die vermutlich daran beteiligt sind. Die Beweiskette auf molekularer Ebene zu schließen, ist nicht nur wichtig, um zu verstehen, warum Drosophila welche Nahrung frisst: Dadurch ließe sich auch prinzipiell nachvollziehen, wie das Gehirn Entscheidungen trifft und welche Gene die dafür notwendigen neuronalen Schaltkreise verantworten – auch die des Menschen.

Das Gehirn der Fliege besteht aus gerade einmal rund 150 000 Nervenzellen. Das Gehirn des Menschen hingegen ist ein Universum aus geschätzten 100 Milliarden bis einer Billion Nervenzellen. Was also kann ein solches Fliegenhirn über das Menschenhirn aussagen? „Der menschliche Geist ist aus Molekülen entstanden, die schon von unseren niederen Vorfahren entwickelt wurden”, schreibt Eric Kandel, einer der weltweit bekanntesten Neurowissenschaftler. Es bestehe eine „außerordentliche Beständigkeit molekularer Mechanismen”. Kandel hat im Jahr 2000 den Nobelpreis für Medizin für die Entdeckung eines Proteins erhalten, das eine wichtige Rolle beim Lernen und Erinnern spielt. Der in Wien geborene, heute in New York forschende Wissenschaftler hat das für die Hirnfunktion unerlässliche Molekül bei der Meeresschnecke Aplysia gefunden, an deren extrem großen Nervenzellen sich das Grundgerüst geistiger Lernprozesse modellhaft studieren lässt.

AUS MITMENSCHEN WERDEN KILLER

In seinem Buch „Auf der Suche nach dem Gedächtnis” bekennt Kandel, dass unter allen wissenschaftlichen Fragen, die ihn interessieren würden, könnte er seinen Forscherweg noch einmal beginnen, die Frage nach der biologischen Basis komplexer Verhaltensweisen an erster Stelle stünde. Denn mit den neuen Methoden der Molekularbiologie könne man heute Verhaltensweisen bis auf die Ebene einzelner Gene zurückführen, und eines Tages werde womöglich klar, was uns „zu geselligen, kommunikationsfähigen Geschöpfen macht” oder „was kultivierte, anständige Menschen dazu treibt, sich in Killer zu verwandeln” .

Auf dem Erkundungsgang durch das Wiener Institut steht Eric Kandel plötzlich auf dem Flur, unverkennbar mit seiner obligatorischen großen Fliege. Er hat gerade einen Vortrag gehalten und begibt sich jetzt in die Cafeteria, wo Mitarbeiter und Studenten auf ihn warten, um persönlich mit ihm zu sprechen. Im Jahr 1939 musste Eric Kandel, Kind österreichischer Juden, aus seiner Heimatstadt Wien fliehen. Die Nazis herrschten, und kultivierte Menschen hatten sich in Killer verwandelt. ■

CLAUDIA EBERHARD-METZGER interessiert sich vor allem für Forschungsfelder mit Tradition – wie die Gen- Forschung an Fliegen.

von Claudia Eberhard-Metzger

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