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Der Goldene Schnitt und die Phythagoräer

Allgemein

Der Goldene Schnitt und die Phythagoräer

WIE VIELE ECKEN hat ein Weihnachtsstern? Wenn Sie meinen, es komme drauf an, es gebe solche und solche, dann haben Sie nicht recht. Gehen Sie mal durch die Straßen, schauen Sie und zählen Sie. Sie werden staunen: (Fast) jeder Stern hat 5 Ecken. Natürlich gibt’s ein paar ungebildete Sterne, die nicht bis 5 zählen können und daher sechs Zacken zeigen. Na ja, auch 6 ist eine gute Zahl, aber 5 ist viel interessanter. Sie fragen, was „ interessant” heißen soll? Interessant heißt: nicht ganz einfach. Versuchen Sie einmal, von Hand ein regelmäßiges Fünfeck oder einen Weihnachtsstern zu zeichnen, dann wissen Sie, was ich meine. In der Natur kommt die Zahl 5 häufig vor: Wenn Sie einen Apfel quer durchschneiden, sehen Sie nicht etwa ein Viereck oder ein Sechseck, sondern ein Fünfeck.

Sobald Sie dafür sensibilisiert sind, sehen Sie Fünfecke und Fünfsterne an allen Ecken und Enden: beim Logo der Automarke Chrysler, beim Zeichen der RAF, bei den Flaggen vieler islamischer Staaten… Für die Mathematiker ist der Weihnachtsstern seit mehr als zwei Jahrtausenden ein Schatz und eine Herausforderung gleichermaßen. Die Pythagoräer benutzten vor 2500 Jahren den Weihnachtsstern als ihr Logo (und nannten es Pentagramm). Und sie entdeckten eine geheimnisvolle Zahl am Pentagramm: Die Strecken, die von Spitze zu Spitze führen, schneiden sich genau im Goldenen Schnitt. Er entsteht, wenn man eine Strecke so teilt, daß die Länge der Gesamtstrecke sich zum größeren Teil so verhält wie die Länge des größeren Teils zum kleineren.

Der Goldene Schnitt gilt als besonders ausbalanciertes Verhältnis zwischen den Extremen, von Spannung und Entspannung, kurz: als Maß für Schönheit. Mit ein bißchen Geometrie und Algebra kann man dieses Verhältnis ausrechnen: Es ist 1 plus Wurzel aus 5, geteilt durch 2 – das ist etwa 1,618. Der Punkt, der die Strecke im Goldenen Schnitt teilt, liegt dann bei 61,8 Prozent der Gesamtstrecke. In dem Verhältnis teilen sich die Seiten des Pentagramms. Diese Entdeckung hatte Konsequenzen. Das hängt damit zusammen, daß der Goldene Schnitt eine irrationale Zahl ist. Man kann die Zahl 1 plus Wurzel aus 5, geteilt durch 2 nicht als Bruch aus zwei ganzen Zahlen schreiben.

Approximieren ja, aber exakt stimmt’s einfach nie. Das liegt an der Wurzel aus 5. Denn die Zahl ist nicht rational, also ist auch der Goldene Schnitt irrational. Die Pythagoräer, die sich das Pentagramm zu ihrem Erkennungszeichen gewählt hatten, brauchten lange Zeit, um dies einzusehen. Anfangs waren sie der festen Überzeugung, daß sich alles, aber auch alles in der Welt durch ganze Zahlen und ihr Verhältnis – also durch rationale Zahlen – beschreiben läßt. Irgendwann mußten sich die Pythagoräer eingestehen, daß sie sich damit verrechnet hatten. Und dabei wurde Ihnen dann auch schmerzlich bewußt, daß sich nicht einmal ihr Logo durch rationale Zahlen beschreiben läßt. Wundern Sie sich jetzt immer noch, warum Weihnachtssterne gleichermaßen schön wie aufregend sind?

Albrecht Beutelspacher

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