Es ist eines der schönsten und elegantesten Werke der Architektur des 20. Jahrhunderts. Stabil und leicht, beschwingt und einladend, schützend und anziehend gleichermaßen. Ein echter Geniestreich. Das zeltartige Dach des Olympiastadions in München ist das Symbol für die Olympiade 1972. Beziehungsweise: Es wird das Symbol gewesen sein, denn das Olympiastadion soll nun umgebaut werden. Schade. Wie kamen die Architekten auf diese ungewöhnlich geschwungenen Formen? Das Dach wurde vom Institut für Leichte Flächentragwerke der Universität Stuttgart unter Leitung von Frei Otto entworfen. Die Mitarbeiter des Instituts haben damals nicht in möglichst verrückten Design-Ideen geschwelgt, eine abgefahrener als die andere – im Gegenteil: Sie suchten die einfachsten Formen. Dazu haben sie experimentiert und beobachtet.
Beobachtet haben sie – Seifenblasenhäute! Ja, sie haben mit Seifenblasen gespielt, ganz ähnlich wie wir als Kinder. Sie haben sich aber nicht auf kugelförmige Gebilde beschränkt, sondern alle möglichen Drahtgestelle in die Seifenlauge getaucht und beobachtet, was dabei herauskommt. Solche Experimente können Sie selbst machen: In eine mit Wasser gefüllte Schüssel geben Sie einen kräftigen Schuß Spülmittel. Dann nehmen Sie einen Draht, formen den zu irgendeinem mehr oder weniger geschlossenen Gebilde und tauchen ihn in die Seifenlauge. Wenn Sie ihn herausziehen, werden Sie überrascht sein, welche Gebilde beim Durchblasen entstehen. Haben Sie den Draht zum Beispiel in Form eines Tetraeders (Pyramide mit dreieckiger Grundfläche) gebogen, bilden sich die Seifenhäute nicht einfach an den vier Flächen, sondern im Inneren des Tetraeders entsteht ein Punkt – und von diesem aus führen Ebenen aus Seifenhaut zu den Kanten des Tetraeders – eine Struktur von schillernder Schönheit.
Die Stuttgarter haben damals Tausende von Versuchen gemacht, alle dokumentiert und dann die angemessene Form für das Olympiadach ausgesucht – wie vorher für den deutschen Pavillon der Weltausstellung in Montreal. In der Seifenhautform steckt Mathematik, die Mathematik der Minimalflächen. Seifenlauge hat nämlich eine „mathematische” Eigenschaft. Es ist zwar nur eine einzige, aber die realisiert sie konsequent und kompromißlos: Sie bildet sich immer so, daß ihre Oberfläche so klein wie möglich ist. Bei jeder Verformung wird die Fläche größer, die Spannung stärker – also federt die Seifenhaut wieder in ihre Ausgangslage zurück. Die Mathematik der Minimalflächen ist ausgesprochen schwierig, man muß komplizierteste Differentialgleichungen lösen. In vielen Fällen kann man auch heute noch eine Minimalfläche leichter mit Seifenlauge realisieren als mathematisch bestimmen.
Letztlich sind die mathematischen Formeln auch nur Ausdruck der Stabilität und der unübertroffenen Eleganz des Olympiadachs. Dessen Formen sind „einfach so” entstanden – sei es durch Experimente, sei es durch mathematische Theorie – und wirken trotz ihrer riesigen Dimensionen natürlich. Schauen Sie sich den Geniestreich an – solange das Original noch zu sehen ist.
Alfred Beutelspacher