Als Krebsforscher vor fast 20 Jahren die ersten Genschäden in Krebszellen fanden, wurden diese Krebsgene als Durchbruch gefeiert. Doch genetische Ansätze für Diagnose und Therapie sind schwieriger als damals angenommen, wie auf einer Konferenz über Krebsgenetik in Washington deutlich wurde. Das nährt Vermutungen, daß die entscheidende Steuerung bei der Krebsentstehung nicht innerhalb der einzelnen Zelle stattfindet.
“Wir kennen viele Puzzlesteine, wissen aber noch nicht, wie sie zusammenpassen”, kommentierte Dr. Richard Klausner, Direktor des National Cancer Institute (NCI), die verwirrende Vielfalt der inzwischen identifizierten Krebsgene oder “Onkogene”.
Ein Beispiel: Etwa fünf bis zehn Prozent aller Brustkrebserkrankungen gehen nach Schätzungen der Mediziner auf Vererbung zurück. Vor drei Jahren fanden Forscher in Familien, in denen häufig Brustkrebs auftrat, vererbte Mutationen in zwei Genen. Sie nannten die Gene “Breast Cancer”, BRCA1 und BRCA2. Schon keimte die Hoffnung, durch Identifizierung dieser Gene – etwa in einer Blutprobe – erblich Belasteten rechtzeitig helfen zu können.
Doch diese Hoffnung trog. Denn es stellte sich heraus: Auch in den Risikogruppen waren BRCA-Mutationen nur bei einem Drittel der Brustkrebs-kranken Frauen nachweisbar.
“Mutationen in den BRCA-Genen sind aber bisher die einzigen Marker, die wir vor dem Ausbruch einer Krebserkrankung finden können”, verteidigt Dr. Douglas Dolginow, Präsident von OncorMed, den diagnostischen Ansatz. Seine Firma bietet BRCA-Gentests an.
Die meisten Brust-Karzinome entstehen offenbar durch lebenslange Ansammlung von Genschäden, aber beileibe nicht nur an einem einzigen Gen. Die Forscher fanden bislang – außer BRCA – 30 bis 40 Gene, unter anderem das weitverbreitete Tumor-Suppressor-Gen p53, bei denen bestimmte Mutationen mit der Entwicklung von Brustkrebs einhergehen.
“Wir sehen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr”, gesteht NCI-Chef Klausner. Um mehr Überblick zu gewinnen, hat das Institut kürzlich das “Cancer Genome Anatomy Project” eingerichtet. Hier sollen zentral Daten gesammelt und Projekte koordiniert werden.
Bei so viel Unklarheit schlägt die Stunde der Dissidenten. So fordert Dr. Mina Bissell, Abteilungsleiterin für Biologische Wissenschaften am National Laboratory in Berkeley, ein Umdenken: Anstatt auf die Bäume – die genetischen Fehler der Krebszelle – zu schauen, sollte das Augenmerk auf den Wald gerichtet werden – den Zellverband insgesamt.
Bissell ist überzeugt: “Interaktionen außerhalb der Zelle sind ausschlaggebend, ob sich ein Tumor bildet.” Sie und ihre Mitarbeiter erkunden den “Kleber” aus Eiweiß- und Zuckermolekülen, der Zellen und Gewebe zusammenhält und Signale übermittelt. Bei Mäusen gelang es ihnen, diesen Kleber so zu manipulieren, daß die Tiere gezielt Tumoren bildeten oder nicht – unabhängig davon, ob die Zellen mutierte Krebsgene enthielten.
“Die Struktur des Gewebes ist entscheidend, nicht die Gene in einzelnen Zellen”, sagt die Wissenschaftlerin und ist sich darüber im klaren: “Das ist eine Kehrtwendung um 180 Grad vom gegenwärtigen Dogma, das besagt: Ist eine Zelle erst einmal zu einer Tumorzelle entartet, verhält sie sich von da an immer wie eine Tumorzelle.”
Viele Konferenzteilnehmer in Washington wollten das Dogma noch nicht aufgeben. Doch einige Vortragende rückten immerhin schon von dem Begriff “Krebs-Gen” ab: Sie sprachen lieber von “mit Krebs assoziierten Genen”.
Krebsgene
Die “Onkogene” wurden zuerst in Viren entdeckt, die Tumoren in Tieren auslösen können. Der Begriff hat sich auch für menschliche Gene eingebürgert, die wichtige Zellfunktionen kontrollieren. Sind die “Proto- Onkogene” an kritischen Stellen geschädigt (mutiert), werden sie zu Onkogenen, die nun zuviel oder ein falsches Protein herstellen. Dies kann zu unkontrolliertem Zellwachstum führen.
Vererbung
Maximal 10 Prozent der Krebs-Todesfälle lassen sich auf ererbte genetische Vorbelastung zurückführen, besagt eine Studie der Harvard School of Public Health. Die Mehrheit – etwa 65 Prozent – hatte ihre Ursache in Rauchen, schlechter Ernährung und fehlender Bewegung. Nur zwei Prozent werden mit Umweltgiften in Verbindung gebracht. Der Rest verteilt sich auf “Verschiedenes” wie Alkoholmißbrauch und Virus-Infektionen.
p 53
Neben den Onkogenen als “Gaspedalen” der Krebsentstehung wurden inzwischen auch “Bremsen” identifiziert: Suppressor-Gene. Sind sie durch Mutation beschädigt, können Tumoren wuchern. Ein bekannter “Bremser” ist das Gen p53, das eine Zellteilung aufhalten oder gar den Selbstmord einer Zelle veranlassen kann.
Bruni Kobbe