Die Geschehnisse, die ein für alle Mal zeigten, dass Erkältungen eine abgefeimtere Sache waren, als die Ärzte vermutet hatten, begannen um 21 Uhr am Abend des 23. Mai 1931 in Longyearbyen. Das Dorf liegt auf der Insel Spitzbergen, auf halbem Weg zwischen dem norwegischen Festland und dem Nordpol. 1931 lebten dort 41 Kinder, 51 Frauen und 415 Männer – robuste Norweger, die zumeist in den Kohleminen arbeiteten. Es war ein kaltes Leben. Nur während der endlos hellen Sommermonate zog sich das Eis so weit zurück, dass Schiffe Longyearbyen anfahren konnten. Schnee, Kälte und Dunkelheit beherrschten den Rest des Jahres. Es war ein Ort, der wie gemacht schien für Erkältungen.
Die Vermutung, dass triefende Nasen und bellender Husten mit Kälte zu tun haben, war damals bereits tief verwurzelt. In fast jeder indogermanischen Sprache spielt der Name der Krankheit auf niedrige Temperaturen an: Die Norweger nennen sie „forkjølelse” (von kjølig, kühl), die Engländer sagen „cold”, und „sardi” in Hindi bezeichnet sowohl abkühlen als auch Erkältung. Aus gutem Grund: In den meisten Gegenden der Welt – selbst dort, wo die Winter wärmer sind als viele Sommer hierzulande – folgt die Erkrankung einem auffälligen Muster. In Europa und Nordamerika schnellt die Zahl der Erkälteten im Frühherbst plötzlich nach oben. Auf hohem Niveau dümpelt sie durch den Winter, bevor sie im Frühjahr nach einem letzten Aufbäumen wieder abfällt. Die Ärzte glaubten lange auch zu wissen warum. Louis Pasteur hatte 1878 ein Huhn in kaltes Wasser gesetzt und mit Anthrax infiziert. Hühner sind dank ihrer hohen Körpertemperatur eigentlich immun gegen den Bazillus, doch dieses Huhn starb. Auf ganz ähnliche Weise verliere der Mensch im Winter seine Abwehrkräfte gegen die omnipräsenten Erkältungserreger, folgerte Pasteur und mit ihm viele Mediziner.
Als aber der Arzt J. Harlan Paul und sein Kollege, der Mikrobiologe H. L. Freese, im September 1930 in Longyearbyen eintrafen, um die Ursachen von Erkältungen zu studieren, machten sie folgende Beobachtung: Kurz nachdem das letzte Boot der Saison den Hafen verlassen hatte, verschwanden auch die verstopften Nasen und kratzigen Kehlen. In den kommenden Monaten – den kältesten des Jahres – fanden Paul und Freese kaum Erkältungen im Ort. Am 23. Mai legte das lang ersehnte erste Schiff des neuen Jahres an. Es brachte Post und 50 neue Arbeiter. Paul und Freese untersuchten die Neuankömmlinge. Keiner war erkältet. Ein Mann allerdings brütete offenbar etwas aus, denn bereits nach wenigen Stunden an Land begann er zu schnauben und zu husten. Rund 48 Stunden später bekamen drei Ortsansässige eine Erkältung. Keiner von ihnen hatte den erkälteten Neuankömmling persönlich getroffen. Am nächsten Tag erkrankten vier weitere Bewohner Longyearbyens, dann 13, dann 21. Zwei Wochen, nachdem das Schiff Anker gelassen hatte, war fast die halbe Stadt erkältet – mitten im Sommer.
Doch die Erkältungsforscher gaben ihre Theorie nicht kampflos auf. In den folgenden Jahrzehnten suchten sie hartnäckig nach einer Verbindung zwischen Frieren und Erkältung. Ein britischer Forscher namens Sir Christopher Andrewes stellte Testpersonen in tropfnassen Badeanzügen in zugige Flure, bis sie sich „ziemlich jämmerlich fühlten”, wie er schrieb. Anschließend ließ er sie stundenlang in nassen Socken herumlaufen, bevor er ihnen Viren direkt in die Nase sprühte. Sie steckten sich nicht häufiger an als Kontrollpersonen, die es kuschelig warm hatten. Auch die Forscher, die 1950 in Chicago 253 Leute – zumeist Studen-ten – überredeten, nackt bis auf die Unterwäsche in einem 15 Grad kühlen Raum zu sitzen oder in Mantel, Mütze und Handschuhen zwei Stunden lang in einer Gefrierkammer auszuharren, konnten keine verstärkte Ansteckung feststellen. Dennoch findet man bis heute Ärzte, die an der Idee festhalten, dass Kälte und Erkältung zusammenhängen – nach dem Motto: „Mehrere Tausend Jahre Volksglauben können doch nicht falsch sein.”
Erkältungen werden selten ernst genommen, doch in der Welt der Krankheitserreger sind sie wie Microsoft und Dieter Bohlen in einem: Kaum jemand entgeht ihnen auf Dauer. Und sie scheinen unbesiegbar. „Die Erkältung ist die häufigste Erkrankung auf der Welt”, sagt Ron Eccles, Direktor des Common Cold Centres an der Cardiff Universität. Erwachsene in Europa und Nordamerika bekommen durchschnittlich zwei bis fünf Erkältungen pro Jahr, Kinder vier bis acht. Es gibt weder eine verlässliche Prävention noch eine Heilung. Der Körper muss selber mit dem Infekt fertig werden. David Tyrrell, der 33 Jahre lang die Erkältungsforschung in Salisbury leitete, berichtet in seinem kürzlich erschienenen Buch „Cold Wars”, dass unter Ärzten seit langem ein Witz zirkuliere: „Der Doktor sagt zum Patienten: ‚Sie haben eine furchtbare Erkältung, aber ich kann sie nicht kurieren. Rufen Sie mich an, falls eine Lungenentzündung daraus wird – die kann ich behandeln.”
Zwischen 200 und 300 Viren aus mindestens fünf Familien können den Infekt hervorrufen, schätzen Forscher. Immunität baut sich deshalb nur langsam auf. Die meisten Erreger – rund 100 – stammen aus der Gruppe der Rhinoviren. Sie verschulden ein Drittel bis die Hälfte aller Erkältungen. Andere kommen aus der Familie der Adenoviren, der seit SARS berüchtigten Coronaviren und der Influenzaviren. Bakterien dagegen verursachen keine Erkältungen, obwohl das sogar manche Ärzte glauben.
Gelingt es den Erregern – direkt oder über den Tränenkanal –, sich in der Schleimhaut der Nase einzunisten, dauert es oft nur 8 bis 24 Stunden bis zum ersten Halskratzen. In den Tagen danach schwellen die Schleimhäute der Nase zu und sondern ein klares Sekret ab, das im Lauf der Zeit zäher wird. Es enthält aggressive Moleküle, die die Nasenflügel schmerzhaft entzünden. Meist klingen die Symptome nach einer Woche ab, ein Viertel der Betroffenen leidet zwei Wochen, und rund jeder Vierte merkt gar nichts von den Viren, obwohl er infiziert – und auch ansteckend – ist.
Erkältungen enden selten tödlich, doch die Symptome sind so unangenehm, dass sie der häufigste Grund für krankheitsbedingte Fehltage sind. Forscher der Universität Michigan befragten im vergangenen Winter über 4000 US-Haushalte und stellten fest, dass amerikanische Kinder jährlich 189 Millionen Schultage wegen Erkältungen versäumen. Schnupfen und Co verursachen zudem mehr als 100 Millionen Arztbesuche pro Jahr. Als die Wissenschaftler dazurechneten, was die Amerikaner jährlich für Nasentropfen, Hustensaft und andere Medikamente ausgeben – darunter erschreckenderweise 1,1 Milliarden Dollar für Antibiotika, obwohl diese Bakterien bekämpfen und deshalb bei Erkältungen erwiesenermaßen nutzlos sind – und wie viel Arbeit sie verpassen, um ihre Kinder oder sich selbst zu pflegen, kamen sie auf die erstaunliche Summe von 40 Milliarden Dollar. Damit kosten Erkältungen die US-Wirtschaft mehr als Asthma oder Herzversagen.
Die Zahlen sind nicht direkt auf Deutschland übertragbar – Bundesbürger lassen sich traditionell länger krankschreiben als US-Arbeitnehmer –, doch Experten schätzen, dass auch hierzulande jede unkomplizierte Erkältung 35 bis 50 Euro für Arztbesuch und Medikamente kostet, berichtet Dr. Helmut Uphoff von der Arbeitsgemeinschaft Influenza in Marburg. Schätzt man konservativ, dass jeder Deutsche zwei Erkältungen pro Jahr hat – „ und das ist ein Minimum”, betont Eccles –, schlagen alleine diese direkten Kosten mit knapp sechs Milliarden Euro zu Buche.
Wie steckt man sich eigentlich mit einer Erkältung an? Eine scheinbar sim-ple Frage, doch die Antwort fällt überraschend schwer.
Zunächst fiel der Verdacht der Ärzte auf das Niesen. In den vierziger Jahren zeigten Fotos, dass ein explosives „Hatschi” Tröpfchen bis zu 160 Stundenkilometer schnell in die Umgebung schleudert, manche vier Meter weit. Die größten unter ihnen – selbst sie messen nur ein Fünfzigstel Millimeter – sinken in Sekunden zu Boden. Die Kleinsten aber schweben oft tagelang in der Luft.
Um zu testen, ob sich die Viren über die Luft verbreiten können, spannte Schnupfenforscher Andrewes eine Decke quer durch ein Zimmer, so dass oben und unten ein Streifen frei blieb. In die eine Hälfte schickte er eine Gruppe Erkälteter, in die andere gesunde Testpersonen. Nach einigen Stunden konnte er nachweisen, dass Tröpfchen in den „gesunden” Teil geschwebt waren. Doch keiner der dort Anwesenden erkältete sich. Auch ein Test in Wisconsin, bei dem Gesunde an schmalen Tischen Erkrankten gegenübersaßen, die ungehemmt niesten, unterhielten und sogar sangen, war erfolglos – ebenso wie das wohl bekannteste Experiment aus dieser Phase, der „Kuss-Test”. Die Forscher wiesen erkältete Testpersonen an, 16 gesunde Freiwillige zu küssen. Alle Kusstechniken waren erlaubt, vorausgesetzt die Münder blieben mindestens eine Minute aufeinander gepresst. Alternativ durfte zweimal à 45 Sekunden geküsst werden. Ergebnis: Nur einer erkältete sich.
Etwas anderes musste am Werk sein – und es gab auch eine Vermutung. In einem denkwürdigen Experiment befestigten britische Forscher einen dünnen Schlauch entlang der Nase eines Laboranten. Heraus tropfte eine klare Flüssigkeit, so als litte der Träger unter einer akuten Erkältung. Ihr war ein Farbstoff beigemischt, der im Ultravioletten fluoreszierte. Plaudernd und Karten spielend mischte sich der Schlauchträger unter eine Gruppe Testpersonen. Nach ein paar Stunden wurden spezielle Ultraviolettaufnahmen gemacht: Die Flüssigkeit war überall – auf den Händen des Schlauchträgers, auf den Karten, ja selbst auf den Nasen der Mitspieler. Der Drang, das eigene Gesicht zu berühren, ist anscheinend fast unwiderstehlich. Als US-Forscher das Verhalten von Kollegen bei Konferenzen beobachteten, bemerkten sie, dass im Laufe einer Stunde mehr als ein Drittel der Wissenschaftler in der Nase bohrte oder daran herumrieb. Entsprechend mühelos wandern die Viren auf Türklinken, Holzgeländer, Küchentresen, Geschirr – ja selbst auf Seidenschals überleben sie stundenlang – und von dort auf die Hände und in die Nasen der Gesunden.
Der Virologe Elliot Dick und sein Team an der Universität Wisconsin starteten ein Experiment. Auf einer amerikanischen Forschungsstation in der Antarktis verteilten sie Tücher – liebevoll „Killer-Kleenex” genannt – zum Nase putzen und Hände reinigen, die mit einer virustötenden Substanz behandelt waren. Mitten in der Erkältungssaison brach die Zahl der Neuansteckungen um 60 Prozent ein. Ein vergleichbares Experiment mit Müttern in Virginia reduzierte ebenfalls die Zahl der Erkältungen.
Ein klarer Fall also. Oder? Dick machte ein weiteres Experiment. Falls sich die Erreger über die Hände verbreiteten, müsse man die Leute daran hindern, ihr Gesicht zu berühren, sagte er sich. Mitte der achtziger Jahre lud er 60 Studenten zu einer Marathonrunde Poker ein. 24 von ihnen infizierte er vorab mit Erkältungsviren, sodass sie schniefend zum Spielen antraten. Das Team legte 18 der gesunden Studenten seltsame Vorrichtungen an. Einigen wurden Halskrausen aus Plastik umgeschnellt, die fast 40 Zentimeter abstanden. Die anderen trugen orthopädische Schienen, sodass sie ihre Arme nicht mehr als 45 Grad abknicken konnten. Die übrigen 18 durfte nach Herzenslust in der Nase bohren und sich die Augen reiben.
Die Studenten spielten von acht Uhr morgens bis elf Uhr nachts. Nur wenn sie auf die Toilette oder etwas essen wollten, wurden die Vorrichtungen entfernt. Vorher jedoch wurden die Hände ihrer Träger desinfiziert und in sterile Handschuhe gesteckt. Juckte zwischendurch die Nase, sprangen die Forscher ein. Das Ergebnis: Rund die Hälfte der Halskrausen- und Schienenträger bekam Schnupfen, Husten oder einen rauen Hals – genauso viele wie aus der Kontrollgruppe. War also doch der Luftweg entscheidend?
Die meisten Mediziner haben sich damit abgefunden, dass Erkältungen sowohl über die Luft als auch über die Finger übertragen werden. „Das Problem ist, dass wir nicht wissen, welcher der beiden Wege wichtiger ist”, sagt Eccles. Zweifellos variiert das von Virusart zu Virusart, doch die Ärzte kennen noch immer nicht alle Erreger. „Wir besitzen eines der besten Virologielabors im Land”, sagt Bruce Barrett von der Universität Wisconsin. „Aber wir können nur in etwa 40 Prozent der Fälle die Erreger sicher identifizieren.”
Zudem ist bis heute mysteriös, weshalb Erkältungen saisonal gehäuft auftreten. Liegt es an der Heizungsluft, die die Schleimhäute austrocknet? Oder schwächelt das Immunsystem, wenn die Sonne fehlt? Forscher bemerkten auch, dass die erste Erkältungswelle oft mit dem Schulbeginn zusammenfällt und dass die Menschen im Winter generell mehr Zeit zusammengedrängt in schlecht gelüfteten Räumen verbringen. Doch die meisten Theorien werfen mehr Fragen auf, als sie lösen. „Ich glaube, niemand hat eine gute Antwort”, sagt Barrett.
Die Hieroglyphen verraten, dass bereits die alten Ägypter unter Erkältungen litten. Sie empfahlen, die Nase bei Ansteckung vier Tage lang mit einer Mischung aus Weihrauch, Honig und einem Bleisalz zu bestreichen. Seither ist der Mensch nicht viel weiter gekommen. Der Traum von einer Schutzimpfung schwand mehr und mehr mit jedem neuen Virus, das die Forscher entdeckten. Zwar spuken regelmäßig Schlagzeilen von „Heilmitteln” durch die Medien, doch selten hört man ein zweites Mal von ihnen. Die Hürden sind hoch: Die Nebenwirkungen dürfen nicht schlimmer sein als die Erkältung selbst. Und das Medikament muss auch „supersicher” sein, damit jeder es nehmen kann, sagt Eccles, der regelmäßig Schnupfenmittel testet. Erst kürzlich stoppte die US-Arzneimittelbehörde FDA ein Erkältungspräparat in der letzten Phase der klinischen Tests, weil es unter anderem die Wirkung von HIV-Medikamenten beeinträchtigte. Es hätte die Erkältungssymptome um bescheidene 24 Stunden verkürzt und auch das nur bei Rhinovirus-Erkältungen.
Ein 75-Jähriger hat rund vier Jahre seines Lebens hustend und schnaubend verbracht, errechnete Eccles. Nach 20 Jahren Forschung vermutet er, dass sich daran so schnell nichts ändern wird. „Ich glaube nicht, dass wir rasch eine Heilung finden werden. Wir werden wohl immer mit diesen Viren leben”, sagt er. Es klingt eher bewundernd als niedergeschlagen.
KOMPAKT
Erkältungen werden durch eine Vielzahl von Viren verursacht. Die wichtigsten sind Rhino- und Coronaviren.
Die Forscher kennen noch längst nicht alle Erkältungsviren.
Bis heute gibt es keine Erkältungsmedizin, die die Ursachen der Krankheit bekämpft.
Ute Eberle