bild der wissenschaft: 600 Millionen Menschen weltweit, davon über 14 Millionen in Deutschland, sind bei Facebook. Was finden sie so toll daran, Herr Schmidt?
Jan-Hinrik Schmidt: Facebook ist ein sehr gutes Werkzeug, um Beziehungen zu pflegen und Kontakt zu Menschen zu halten, die man sonst vielleicht aus den Augen verlieren würde – wie Schulkameraden, ehemalige Kollegen, oder Menschen, die man im Urlaub getroffen hat. Man kann aber auch neue Leute kennenlernen, mit denen man Interessen teilt oder Gemeinsamkeiten hat.
Was muss passieren, damit ein Internet-Angebot einen derartigen Hype erlebt wie Facebook gerade?
Da kommen mehrere Aspekte zusammen. Facebook ist in Deutschland nicht die erste Plattform dieser Art, dadurch hatten die Nutzer schon eine Vorstellung, was sie damit machen können. Es gab einige Jahre zuvor bereits SchülerVZ und StudiVZ, die das amerikanische Facebook als Vorbild hatten, aber sich zunächst besser in Deutschland durchsetzen konnten. Facebook traf also auf eine kritische Masse und mobilisierte diese dadurch, dass es viele Funktionen anbot, über die man Freunde und Kontakte gewinnen kann. Die Macher von Facebook haben zudem Funktionen erfunden, die die kommunikativen Bedürfnisse der Nutzer besser befriedigen als die anderen Plattformen. Die erste wichtige Innovation war der Newsfeed: Wenn man sich einloggt, sieht man sofort, was die Freunde mitzuteilen haben, ob sie neue Bilder hochgeladen haben oder neue Freundschaften geknüpft haben. Weil ständig etwas Neues zu lesen ist, kommt man immer wieder. Eine weitere wichtige Entscheidung war, die Plattform für andere Anbieter zu öffnen. So konnten etwa Spielefirmen an Facebook andocken. Das Spiel „Farmville”, bei dem man einen virtuellen Bauernhof betreibt, ist das populärste Beispiel. Auch das übt einen so starken Reiz auf die Nutzer aus, dass sie immer wieder kommen.
Wieso stürzten andere Anbieter wie etwa StudiVZ so schnell ab?
Der große Nachteil von StudiVZ ist, dass es eine deutschsprachige Plattform ist. Aber gerade Nutzer unter 30 Jahren, die die Wachstumstreiber solcher Plattformen sind, wollen den Kontakt zu Menschen in anderen Ländern halten, die sie im Auslandssemester oder im Urlaub kennengelernt haben. Mit Facebook geht das: Es bietet die Chance, internationale Kontakte zu pflegen. Was man auch nicht vergessen darf: Es gibt eine Art Coolness-Faktor. Facebook wurde 2009 auf einmal „cool”. So entstand der Hype. Allein die Wahl, auf welcher Plattform man sich tummelt, ist schon Ausdruck der Identität. Doch es ist nicht gesagt, dass die heute Achtjährigen in vier Jahren Facebook cool finden. Denn es ist dann das Netzwerk, in dem ihre Eltern und Lehrer sind.
Was kommt nach Facebook?
Ich glaube, das Prinzip von Facebook wird nicht verschwinden. Dazu ist diese Art von Plattform zu nützlich für die Beziehungspflege. Aber ob wir in drei Jahren noch von Facebook sprechen oder von anderen Anwendungen, da bin ich mir nicht sicher. Bei Facebook hängt viel davon ab, wie sich die Debatte um Datenschutz und Privatsphäre in Deutschland entwickelt. Am deutschen Markt gemessen, geht Facebook sehr offen mit persönlichen Daten um. Man merkt, dass es eine amerikanische Firma ist, die aus einem speziellen Milieu kommt, dem Silicon Valley, wo Networking und Selbstpräsentation dazugehören. Die Frage ist, wie wir damit umgehen, dass ein kommerzieller Anbieter, der noch dazu nicht in Deutschland sitzt, so viele Informationen über uns hat. Gedankenspiele, wie datenfreundlichere Architekturen aussehen könnten, gibt es bereits. Sie haben bisher nur nicht dieselbe Attraktivität.
Beobachten Sie so etwas wie Gruppenzwang auf Facebook?
Aus unseren Interviews mit Jugendlichen wissen wir, dass von dem eigenen Umfeld ein gewisser Druck ausgeht, auf einer Plattform wie Facebook sein zu müssen, um nicht abgehängt zu werden. Interessant ist: Das Klischee war ja früher, dass Leute, die das Internet nutzen, sich sozial isolieren. Überspitzt gesagt, ist es heute umgekehrt. Wer nicht im Internet ist, bekommt die Einladung zu mancher Party nicht mit oder weiß zum Beispiel nicht, dass Dirk jetzt mit Tamara zusammen ist. Es wurde auch untersucht, wie Nutzer die Einstellung ihrer Privatsphäre handhaben. Das hängt stark davon ab, wie es in ihrem Umfeld aussieht. Wenn die Freunde alle freizügig mit ihren Daten umgehen, dann macht man das auch.
Leidet durch die Facebook-Nutzung der persönliche Kontakt zwischen Menschen?
Ich bezweifle das. Die Frage ist doch: Würde der Neffe in Amerika jede Woche mit seinem Onkel in Deutschland kommunizieren, wenn es Facebook nicht gäbe? Die Mehrzahl der Nutzer hat ein Gespür dafür, in welchen Situationen welcher Kanal angemessen ist. Es gibt bestimmte Dinge, die man nicht über Facebook mitteilt, sondern per Anruf, Brief oder persönlich. Umgekehrt ist es aber sicher so, dass viele Menschen den Kontakt ohne Facebook verloren hätten, weil der Aufwand zu groß wäre. Mit Facebook ist es relativ leicht, mit 200 Personen Kontakt zu halten. Das Internet und E-Mails haben da schon viel verändert. Facebook ist ein weiterer Baustein.
Es ist aber doch unpersönlicher, wenn man eine Facebook-Nachricht an alle sendet, statt eine E-Mail an einen bestimmten Adressaten zu richten.
Jeder Kommunikationskanal ist mit gewissen Erwartungen und Konventionen verbunden. Es ist interessant, dass Sie die E-Mail erwähnen, denn viele Leute sagen, dass alles, was über das Internet läuft, unpersönlich ist. Augenscheinlich verschiebt sich da etwas. Der entscheidende Unterschied von Telefon und E-Mail zu Facebook ist die Größe des Publikums. Was auf Facebook passiert, ist eine faszinierende Zwischenform von interpersonalem Austausch und Massenkommunikation. Facebook schafft einen neuen Typ von Öffentlichkeit. Ich nenne ihn „Persönliche Öffentlichkeit”, weil es um Dinge geht, die für einen bestimmten Personenkreis zugänglich sind. Durch die Kommentarfunktion entspinnen sich Dialoge oder eine Konversation zwischen vielen Menschen.
Ist Facebook hauptsächlich etwas für junge Leute?
Die Verbreitung bei Teenagern und unter 30-Jährigen ist deutlich höher als bei über 50-Jährigen. Aber auch die sind zu finden. Dass Facebook eine jugendliche Anmutung hat, liegt daran, dass die Art, wie man kommuniziert, für viele Ältere verwunderlich ist. Man muss den Schritt aus der engen Privatsphäre in Richtung Öffentlichkeit machen.
Ist jungen Leuten die Privatsphäre denn weniger wichtig?
Das sagt man den Jüngeren nach, aber das Gegenteil ist der Fall. Nur die Grenzen werden anders gezogen. Viele Jüngere empfinden es nicht als Verlust von Privatsphäre, wenn sie ihre Urlaubsfotos ins Netz stellen. Wenn andere Fotos von ihnen einstellen, wird das aber sehr wohl als Verstoß gesehen. Es ist eine Frage der Kontrolle. In unseren Interviews mit Jugendlichen haben wir zudem ermittelt, dass sie gerade in der Pubertät Privatsphäre nicht in Bezug auf die Allgemeinheit verstehen, sondern in Abgrenzung zu Eltern oder Lehrern – oder zum blöden Typen aus der Parallelklasse. Das sind die Personen, vor denen man bestimmte Informationen schützen will. Der künftige Personalchef, der Bilder auf Facebook finden könnte, ist zu weit weg und damit kein Problem.
Wieso stört es offenbar die wenigsten, dass ihre privaten Daten von Facebook zu Geld gemacht werden?
Viele Nutzer durchschauen im Detail nicht, welchen Wert ihre Daten darstellen. Und wenn sie es verstanden haben, ist die nächste Frage: Ist es mir das wert? Offenbar ist Facebook zu einem wesentlichen Bestandteil des sozialen Alltags geworden, sodass viele nicht mehr darauf verzichten wollen. Es ist ein abstrakter Tausch von Daten gegen Dienstleistung, der aber nur so lange funktioniert, wie kein Geld fließt. Wenn Facebook sagen würde „Wer nicht alle Daten preisgibt, muss bezahlen”, würde das die Nutzer aufhorchen lassen. Bisher haben die meisten aber noch keine negativen Erfahrungen gemacht. Man hört zwar ab und zu von einem Datenskandal, wie etwa bei StudiVZ, wo 100 000 Adressen gehackt wurden. Und mancher fragt sich auch: Waren meine dabei? Aber man spürt keine direkten negativen Folgen.
Halten Sie es für wichtig, ein anderes Bewusstsein für den Wert privater Daten zu schaffen?
Wir sollten das Leitbild der informationellen Selbstbestimmung hochhalten und eine bessere Medienkompetenz in Schulen, aber auch bei Erwachsenen etablieren. Und wir sollten uns nicht so treiben lassen von der Technik, ihren Entwicklern und den Interessen, die dahinterstecken. Die Nutzer sollten einen eigenen Weg zur Mitbestimmung finden. Sie könnten als Kunden von Facebook online zum Beispiel einen Protest organisieren und damit Öffentlichkeit erzeugen. Natürlich können die deutschen Datenschutzbeauftragten gegen Facebook in den USA wettern, aber das wird die Macher nicht in ihren Grundentscheidungen beeinflussen. Trotzdem sollten die Datenschützer es tun, denn Facebook will ja den deutschen Markt weiter erobern – und den sollte man ihm nicht einfach bedingungslos überlassen.
Der Chefredakteur von Zeit online, Wolfgang Blau, vermutet, dass die Medienwelt jüngerer Nutzer nur noch aus einem permanenten „Stream” besteht. Leben Jugendliche tatsächlich in einem Nachrichtenstrom und können mit Zeitungen nichts mehr anfangen?
Ich würde das nicht binär sehen, also dass alle unter 20-Jährigen so sind und alle darüber anders. Wir sind in einer Übergangsphase: Die Art, wie Menschen Informationen filtern und ihr Informationsrepertoire zusammenbauen, ändert sich. Ich glaube aber nicht, dass das Nutzungsverhalten der Mehrheit der Deutschen anders ist als vor ein paar Jahren, nicht einmal bei den jungen Leuten. Zu den neuen Kommunikationsarchitekturen passt die Metapher des Stroms natürlich, denn die Informationen laufen kontinuierlich durch – und jeder kann entscheiden, wie lange er seinen Kopf hineinhält. Die klassischen Medien erleben, wie sich unter solchen Bedingungen ihr altes Produkt entbündelt. Nach wie vor sind journalistische Nachrichten wichtig, aber eben nicht mehr in Gänze. Wenn Nutzer einen Artikel interessant finden, verbreiten sie ihn in ihrem Netzwerk.
Was ist für Sie persönlich der Anreiz, auf Facebook zu sein?
Ich pflege dort meine Freundschaften und persönlichen Beziehungen. Doch auch wenn ich Facebook nicht erforschen würde, wäre ich ein Nutzer. So bin ich zugleich teilnehmender Beobachter, kann Entwicklungen nachvollziehen und selbst Neues ausprobieren. Berufliches vermischt sich dadurch zwar mit Privatem, aber das ist für mich kein Problem. ■
Das Gespräch führte Cornelia Varwig Jan-Hinrik Schmidt ist seit 2007 wissenschaftlicher Referent für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation am Hans-Bredow-Institut in Hamburg. Der promovierte Soziologe (Jahrgang 1972) beschäftigt sich seit der Jahrtausendwende mit neuen Medien und Internetnutzung. Soziale Netzwerke erforschte der gebürtige Würzburger erstmals 2005 mit einem Projekt über das Business-Portal „Xing” (damals „OpenBC”). Schmidt ist ein Facebook-Nutzer der ersten Stunde – sowohl beruflich als auch privat – und auf mindestens 15 Netzwerk-Plattformen angemeldet. Dass er verheiratet ist, hat er der Facebook-Gemeinde aber bisher nicht verraten.