Diesmal bleibt es nicht bei guten Vorsätzen, diesmal macht Jochen ernst – er fängt an, seine Wohnung aufzuräumen. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis er diesen Schritt wagte. Jetzt beginnt er ein neues Leben. Tausende von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern stapeln sich überall – quellen aus vollgestopften Regalen, Schubladen und Schränken, lagern unter, neben und auf dem Bett, türmen sich auf Kühlschrank, Küchentisch und Spülmaschine. Im Wohnzimmer kämpfen die Papiergebirge mit 500 Videokassetten, 1000 CDs und 11000 Dias um ihren Platz auf Sofa, Sessel, Fernseher und den drei Videorecordern. Jochen ist Systemanalytiker und sammelt ohne Ende. Hortet blindlings alles, was den Weg in seine 74-Quadratmeter-Wohnung findet, kann sich von nichts mehr trennen. Was an Kleidung, Kochgeschirr und Krimskrams nicht mehr in die Schränke paßt, ergreift vom Fußboden Besitz und läßt nur noch schmale Schneisen übrig, die täglich enger werden.
Die zahllosen Pflanzen finden in dem Chaos längst keinen Platz mehr. Sie teilen sich mit drei Fahrrädern den Balkon und welken vor sich hin. Wohl fühlte sich Jochen in seinem Zuhause schon lange nicht mehr. Seine Frau hatte ihn vor 17 Jahren wegen seiner chronischen Unordnung verlassen. Damals verstand er ihre Vorwürfe noch nicht, das Tohuwabohu war für ihn noch kein Problem. Doch das änderte sich. Immer häufiger vermied er es, daheim zu sein, arbeitete bis spät abends, war jedes Wochenende auf Achse. Einladungen nahm er keine mehr an, aus Furcht, seine Freunde dann auch zu sich nach Hause einladen zu müssen.
Jochen wurde einsam. Bis er vor vier Jahren erfuhr, daß er mit seinem Durcheinander nicht allein ist. Es gibt viele wie ihn. Sie nennen sich „Messies”. Die Amerikanerin Sandra Felton prägte diesen Begriff Anfang der achtziger Jahre, nachdem sie die erste Selbsthilfegruppe für notorische Chaoten gegründet hatte – die „ Anonymen Messies”. Die Lehrerin lebte selbst jahrelang in völliger Unordnung (englisch: mess) und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Dazu schaute sie sich bei ihren ordentlichen Freundinnen ein paar Haushaltskniffe ab und siehe da: Nach und nach verwandelte sich ihre „elende Hütte” in ein „wunderbares Schloß”. Seitdem verkündet sie die Tips und Tricks, angereichert mit allerlei philosophischen Weisheiten, einem Millionenpublikum, hält Vorträge, veranstaltet Seminare und schreibt Bücher wie am Fließband. Allerorten entstehen in den USA Selbsthilfegruppen, die Feltons Worte bis in die letzten Winkel amerikanischer Wirrwarr-Wohnstuben tragen.
1996 erreichte die frohe Kunde Deutschland. In einem Vortrag in Cuxhaven erläuterte Felton ihrem Publikum, was es mit den Messies auf sich hat und verkündete: „Das Chaos ist besiegbar!” Prompt fanden sich auch hierzulande zahlreiche Ordnungssuchende zusammen. Organisiert nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholiker tauschen sie in den inzwischen mehr als 70 Selbsthilfegruppen ihre Leidensgeschichten aus und unterstützen sich gegenseitig. Psychologen haben den Messies lange Zeit keine Beachtung geschenkt, trotz ihrer offensichtlichen Hilfsbedürftigkeit.
Die Bielefelder Psychologin Dr. Gisela Steins ist die erste und bislang einzige Wissenschaftlerin, die systematisch in der Konfusion notorischer Sammler stochert, und den Messies zwei Studien gewidmet hat. Ihre Ergebnisse: Den Messie schlechthin gibt es nicht. Jeder hat seine eigene Form der Unordnung. Aber alle Messies erleben sich als passiv und dem Chaos völlig hilflos ausgeliefert. Charakteristisch sind generelle Defizite in der Organisation des Alltags. 80 Prozent der Messies fühlen sich oft überfordert. Nicht jeder Messie ist ein Sammler. Nur zwei Drittel horten alles, was ihnen in die Finger kommt und empfinden dies als zwanghaft. Jeder zweite hat ein Zeitproblem, verpaßt Termine, kommt zu spät und nimmt sich zu viel auf einmal vor. Das Messie-Dasein beginnt meist in der Jugend, verläuft chronisch und bessert sich nicht von allein. Messies, so Gisela Steins, sind in allen Berufen zu finden. Unter Lehrern, Schreinern und Journalisten ebenso wie unter Staatsanwälten und Hausfrauen. Selbst Systemanalytiker wie Jochen sind vor dem Chaos in den eigenen vier Wänden nicht gefeit. In der Messie-Seele, so vermutet Steins aufgrund einer zweiten Untersuchung, herrscht die gleiche emotionale Unordnung wie bei Patienten mit einer Eßstörung: Mangelndes Selbstwertgefühl geht einher mit großem Einfluß anderer auf das eigene Handeln.
Parallelen sieht Steins auch in der Psyche von Messies und Depressiven. „Allen drei Störungen scheint gemeinsam, daß die Betroffenen vor allem darunter leiden, ihren Alltag nicht ausreichend selbst gestalten zu können”, meint Steins. Ursache für die emotionalen Verschlingungen ist für sie eine Verhaltensstörung. „Messies schieben alles chronisch auf”, meint die Psychologin. In einer Therapie sollte deshalb konkret daran gearbeitet werden, was die Anarchisten des Alltags an einem ordentlichen Leben hindert: Geringes Selbstwertgefühl: Sie trauen sich wenig zu. Trotzreaktion: Sie verhalten sich bewußt feindselig gegenüber ordentlichen Mitmenschen und deren Erwartungen. Perfektionismus: Bevor sie etwas nicht hundertprozentig machen können, fangen sie erst gar nicht damit an. Geringe Frustrationstoleranz: Sie können es nicht ertragen, unbefriedigende Aufgaben zu erledigen. Die Esslinger Diplom-Psychologin Cordula Neuhaus sieht das Messie-Syndrom in einem anderen Licht und postuliert eine neurologische Ursache. Ihre These: Die chaotische Lebensführung ist Ausdruck des sogenannten Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms (ADS), bei dem eine vermutlich angeborene Störung das chemische Gleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn durcheinanderbringt. Überprüft ist diese These noch nicht. Neuhaus stützt sich auf die langjährige Beobachtung ihrer ADS-Patienten, von denen viele ein typisches Messie-Verhalten an den Tag legen. Kennzeichen von ADS ist eine gestörte Impulssteuerung. Dazu ist der „Arbeitsspeicher” im Gehirn zu klein, Sinneseindrücke können nicht richtig geordnet werden. Die Folge: Den Betroffenen fällt es schwer, sich zu konzentrieren, sie sind leicht ablenkbar und oft unfähig, Entscheidungen zu treffen. „Während manche dadurch zum ‚ Zappelphilipp‘ werden, geraten andere in ein völliges Chaos beim Umgang mit Zeit, Gegenständen oder auch in Geldangelegenheiten”, meint Neuhaus.
Mit einer Verhaltenstherapie, nötigenfalls medikamentös begleitet, läßt sich ADS in der Regel gut in den Griff bekommen, sagt die Psychologin. „Zunächst müssen Messies verstehen, daß sie nichts für ihr Chaos können, nicht einfach schlampig, dumm oder faul sind.” Mit Hilfe einer Vertrauensperson – das kann der Partner sein, eine gute Freundin oder auch ein Therapeut – wird in kleinen Schritten ein Weg aus der Liederlichkeit gesucht. Der „ Coach” gibt konkrete Aufgaben, kontrolliert deren Erledigung und lobt. Ziel ist das selbstbestimmte Handeln – der Messie lernt, sich allein und stets aufs neue selbst zu motivieren.
Eine Verhaltenstherapie half Marianne Bönigk-Schulz zurück zu einem aufgeräumten Leben. Sie ist wie Jochen ein bekennender Messie. Doch mit den Anleitungen der „Anonymen Messies” kann sie nichts anfangen: „Das hat mir überhaupt nicht geholfen”, sagt die 49jährige. Sie suchte professionelle Hilfe bei einem Therapeuten. Nach 15 Sitzungen gewann sie die Oberhand über die Regellosigkeit in ihrem Inneren. Mit dem äußeren Durcheinander, dem einst vollgestopften Zweifamilienhaus, ist sie auch heute, zwei Jahre später, noch beschäftigt. Doch sie hat gelernt, ihren Perfektionismus zu zügeln. Wenn sie heute ihre schmutzigen Tassen und Teller abwaschen will, plant sie nicht mehr wie früher, gleich die ganze Küche zu renovieren, um dann an dieser übergroßen Aufgabe zu scheitern und letztlich nicht einmal das Geschirr zu spülen.
Ermutigt durch ihren Erfolg, rief Marianne Bönigk-Schulz den „ Förderverein zur Erforschung des Messie-Syndroms (FEM)” ins Leben, um Psychologen und Ärzten das verwirrende Thema ans Herz zu legen. Jochen, der Systemanalytiker aus Berlin, hat keinen professionellen Thera-peuten aufgesucht. Sein häusliches Durcheinander hat er heute trotzdem im Griff, sagt er. Balsam für seine Wohnung waren die wöchentlichen Treffen der Anonymen Messies. Als er vor vier Jahren zur Tat schritt, kaufte er sich 49 Umzugskartons, packte seinen ganzen Krempel hinein und begann zu sortieren – Stück für Stück eine harte Entscheidung, Kiste für Kiste. Zwölf Kartons sind noch unsortiert. Und dann hängen da noch 130 Hemden im Schrank. „Der Weg aus dem Chaos ist ein Marathon, kein Sprint”, sagt Sandra Felton.
Kompakt Die Ursachen für die häusliche Anarchie sind noch nicht endgültig geklärt. Aber: Das Chaos ist besiegbar, propagieren die Anonymen Messies. Es gibt inzwischen 70 Selbsthilfegruppen. Auch eine Verhaltenstherapie kann die Konfusionen beenden.
bdw community LESEN Peter Dettmering, Renate Pastenaci DAS VERMÜLLUNGSSYNDROM Verlag Dietmar Klotz, Eschborn 2000 DM 34,80
Sandra Felton IM CHAOS BIN ICH KÖNIGIN Überlebenstraining im Alltag Brendow-Verlag, Moers 1994 DM 21,95
Sandra Felton DAS CHAOS IST BESIEGT Mit Kreativität und Pfiff den Alltag im Griff Brendow-Verlag, Moers 1998 DM 21,95
Vera König … UND MORGEN WIRD ALLES ANDERS Autobiographie einer Frau, deren Mutter am sogenannten Vermüllungssyndrom leidet R.G. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999, DM 14,80
Gisela Steins Untersuchungen zur Deskription einer Desorganisationsproblematik: Was verbirgt sich hinter dem Phänomen Messie? In: Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, Jg. 45, 3 | 2000
Kontakt Dr. Gisela Steins, Universität Bielefeld, Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaften, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld, E-Mail: gsteins@uni-bielefeld.de
Anonyme Messies Messie-Selbsthilfegruppen e.V., Ansprechpartner und Informationen: Jochen, Tel. 030/464 99 409
Förderverein zur Erforschung des Messie-Syndroms e.V. (FEM) Ansprechpartnerin: Marianne Bönigk-Schulz, Tegerstr. 15, 32825 Blomberg, Tel. 05236/88 87 95 E-Mail: femmessies@t-online.de
Internet Erste Anlaufadressen für Menschen, die ihr Tohuwabohu nicht mehr in den Griff bekommen: members.aol.com/amessie/welcome.htm (Anonyme Messies Berlin)
www.messies-selbsthilfe.de (Messie-Selbsthilfe e.V.)
Kathryn Kortmann / Thomas Müller