Es war im Jahre 537. Die Goten belagerten Rom und leiteten die Wasser der Aquaedukte ab, die nicht nur die Stadt mit Trinkwasser versorgten, sondern auch die Getreidemühlen antrieben. In dieser brenzligen Situation soll der römische Feldherr Belisar auf dem Tiber schwimmende Mühlen eingerichtet haben. Johannes Mager berichtet darüber in seinem Buch “Mühlenflügel und Wasserrad”: Belisar ließ Wassermühlen auf großen Kähnen im Fluß verankern und ihre Schaufelräder von der Strömung treiben.
Von Schiffmühlen und Mühlenschiffen: Die Erfindung war so erfolgreich, daß sie sich später in ganz Europa verbreitete. Die Schiffmühlen wurden für viele Zwecke eingesetzt: als Getreidemühlen und Sägegatter, als Stampf- und Rührwerke, als Papiermühlen und sogar als Bergwerk-Schiffmühlen. In Deutschland gab es Schiffmühlen bis ins 20. Jahrhundert. Eine der letzten schwamm bei Ginsheim im Rhein auf einem Eisenblechkahn von 26 Meter Länge und über 6 Meter Breite. Sie konnte je nach Wasserstand und entsprechender Strömung in 24 Stunden zwischen 2,6 und 3,6 Tonnen Weizen mahlen.
Wenn sich die Strömungsenergie eines Flusses für schwimmende Mühlen nutzen läßt, liegt die Frage nicht fern, ob der Strom des Wassers auch ein Schiff zur Fahrt stromaufwärts antreiben könnte. Zweifellos muß das Schiff dazu wie die Mühlen verankert sein, und zwar stets oberhalb seiner augenblicklichen Position, damit es nicht mit der Strömung flußab treibt.
Die Garnrolle: Bleiben wir zunächst auf dem festen Boden und studieren eine einfache Analogie. Auf dem Tisch liege eine Garnrolle – das sind zwei Räder (Radius R), die durch eine Welle (Radius r) verbunden sind. Zieht man das freie Ende der aufgewickelten Schnur (oben im Bild) nach links, folgt ihm die Garnrolle auf dem Fuße. Die geringste hemmende Kraft der Unterlage auf den Fußpunkt der Rolle veranlaßt sie, sich entgegen dem Uhrzeiger zu drehen. Zieht die Schnur, wie gezeichnet, unten an der Welle, wickelt sich die Schnur auf, und die Garnrolle läuft schneller nach links als die Schnur, die an ihr zieht. Wenn der Tisch nicht zu glatt ist, kommt sie nach kurzer Zeit vom Rutschen ins Rollen, und der momentane Fußpunkt der Garnrolle auf dem Tisch wird zu ihrem Drehpunkt. Beim Rollen läßt sich die Geschwindigkeit V der Garnrolle aus der Geschwindigkeit U der Schnur nach dem Strahlensatz ermitteln: V = UR/(R – r). Theoretisch wird die Geschwindigkeit sehr groß, wenn der Radius der Welle dem Radius der Räder nahekommt.
Wir wechseln den Standpunkt des Beobachters und betrachten den Vorgang in Bezug auf die Schnur. Wer mit der Schnur läuft, findet sie in Ruhe und sieht die Unterlage (die Tischfläche) mit der Geschwindigkeit U in die Gegenrichtung, nach rechts, wandern. Die Garnrolle läuft weiterhin nach links, aber mit geringerer Geschwindigkeit V – U = Ur/(R – r), weil die Tischfläche ihr entgegenkommt. Sie läuft also “gegen den Strom”, der sie antreibt. Sie tut also dasselbe, was wir vom Gegenstromboot erwarten.
Das Preisausschreiben: Ich hielt es für ein Wagnis, im Rahmen einer Fernsehsendung die Zuschauer zur Einsendung origineller Ideen für “perpetua mobilia” einzuladen, von Mechanismen, die vermeintlich Energie erzeugen können. Sollten wir alle Möchtegern-Erfinder ermutigen, ihre wirklichkeitsfremden Ideen darzustellen? Und wer sollte die Berge von Postsendungen bearbeiten? Zum Glück behielten die Optimisten in der Redaktion recht.
Unter den Einsendungen waren zwar alle bekannten und denkbaren Typen von Perpetuum-mobile-Konstruktionen vertreten, die Gewichte an Hebeln und Wasserströme, den archimedischen Auftrieb, die Kapillarität, den Magnetismus und so weiter zur angeblichen Energieerzeugung ausnutzen, aber es gab auch einige originelle Ideen, mit denen die Einsender die Moderatoren der Sendung auf die Probe stellen wollten.
Ein Hildesheimer Schüler schickte uns die Beschreibung eines Gegenstromboots mit der Anmerkung: “Natürlich weiß ich, daß mein Schiff kein ,echtes` Perpetuum mobile ist, denn es benutzt auch für die Stromauf-Fahrt die Strömkraft des Wassers. Aber im Gegensatz zu den ,echten` Perpetuum mobiles funktioniert es! Und das ist ja wohl die Hauptsache!”
Michaels Schiff existierte damals nur auf dem Papier. Es dauerte noch fast ein Jahr, bis er seine Idee mit unserer Unterstützung in die Tat umgesetzt hatte, und wir sein selbstgebautes Schiff den Fernsehzuschauern vorstellen konnten. Die Lösung für die Konstruktion des Gegenstromboots ist, analog zur Garnrolle, ein Schiff mit zwei Schaufelrädern, auf deren gemeinsamer Welle sich die Ankerschnur aufwickelt. In seiner Erfolgsmeldung schrieb Michael unter anderem: “…tatsächlich – es funktioniert. Und sogar ziemlich gut. Ich habe ja schon geschrieben, daß es ungefähr 5 Meter pro Minute fuhr. Das hört sich ziemlich langsam an. Aber wenn man sieht, wie kraftvoll und schnell sich die Schaufelräder drehen, wie das Schiff mutig gegen die Strömung schwimmt, hat man einen ganz anderen Eindruck… Ich habe noch die Strömungsgeschwindigkeit des Wassers gemessen und kam auf etwa 40 Meter pro Minute.”
Fahrt stromauf: Das Gegenstromboot kommt so rasch in Fahrt, daß wir nur die stationäre Geradeausfahrt mit der Fahrgeschwindigkeit V zu untersuchen brauchen, die sich bei der konstanten Strömungsgeschwindigkeit U einstellt. Da Beschleunigungen keine Rolle spielen sollten, steht die Schnurkraft S mit dem Widerstand W des Bootskörpers und dem Widerstand T des Wasserrads im Gleichgewicht: S = T + W.
Außerdem heben sich die Drehmomente der Schnurkraft und der Widerstandskraft der Schaufeln um die Schaufelradwelle auf: Sr = TR. Hier bedeuten r den Radius der Welle und R den a priori nicht bekannten Abstand des Druckpunkts (Angriffspunkts des Schaufelrad-Widerstands), der später so bestimmt wird, daß die Vorwärtsgeschwindigkeit V des Bootes bei Vorgabe aller übrigen Daten möglichst groß (optimal) wird.
Durch Elimination der Schnurkraft S folgt die Gleichgewichtsbedingung (R – r)T = rW. Weil die Schaufelräder die ruhende Ankerschnur bei der Vorwärtsfahrt mit der Geschwindigkeit V auf die Welle wickeln, gilt für die Winkelgeschwindigkeit Ω der Schaufelräder: V = Ωr.
Der Bootskörper wird mit der Geschwindigkeit U + V, der Druckpunkt am Schaufelrad mit der kleineren Geschwindigkeit U + V – WR angeströmt, weil die Schaufeln dem Druck des Wassers nachgeben.
Unter der Annahme, daß die Wasserkräfte proportional zum Staudruck sind, der vom Quadrat der Anströmgeschwindigkeit abhängt, gilt für die Widerstände des Bootes und der Schaufelräder W = ρcwAw(U+V)²/2 beziehungsweise T = ρcTAT(U+V – WR)²/2. Darin sind ρ die Wasserdichte, Awdie vom Wasser benetzte Oberfläche des Bootskörpers und AT die eingetauchte Schaufelradfläche. Alle anderen Eigenschaften stecken in den Widerstandskoeffizienten cw und cT. Mit diesen Zutaten läßt sich zu jedem vorgegebenen Wert des Verhältnisses cwAw/cTAT = γ2 der spezifischen Widerstände von Bootskörper und Schaufelrädern der optimale Wert des Verhältnisses ε = (R – r)/r der Hebelarme am Schaufelrad beim Maximum von V/U routinemäßig bestimmen. Er läßt sich aus der kubischen Gleichung γ(1+3ε) = 2ε1/2 für ε½ zahlenmäßig errechnen. Die optimale Geschwindigkeit des Bootes ergibt sich damit zu V = U/3ε. Einige Wertepaarungen sind in der Tabelle zusammengestellt: siehe unten
Schwere Kähne mit großem Bootswiderstand kommen, wie zu erwarten, nur schwer gegen den Strom voran. Sogar Michaels kleines, leichtes Boot rangiert, nach dem Verhältnis V/U = 1/8 zu urteilen, weit unten in der Tabelle. Das unverhältnismäßig starke Anwachsen der Fahrgeschwindigkeit V und der Schaufelrad-Drehzahl f = V/2φr = U/6φrε bei sehr kleinen Werten von γ (und daher von ε) weist darauf hin, daß die Voraussetzungen der Theorie in diesem Parameterbereich unseres Experiments nicht mehr erfüllt sind.
Allerdings bedeutet zum Beispiel γ = 1/10 bereits ein extrem kleines Verhältnis 1/100 der spezifischen Widerstände von Bootskörper und Schaufelrädern. Das Gegenstromboot entartet in diesem Grenzfall zum schwimmenden Schaufelrad.
Wolfgang Bürger