Am Ausgang des alten Jahrtausends gehen viele Uhren rückwärts. Sie zählen in aller Welt die Stunden, Minuten, Sekunden bis zum Millennium Switch: dem Übergang in ein neues Zeitalter. Befürchtungen und Hoffnungen hängen daran. Aber nur eines ist sicher: Das 3. Jahrtausend bringt der Erde zunächst sehr viel mehr Menschen. Denn eine der Uhren läuft auch in diesen Tagen unerbittlich vorwärts: die Weltbevölkerungsuhr.
Derzeit kommen pro Sekunde, statistisch gesehen, 4,3 Kinder zur Welt. So nähert sich der Zeiger langsam, aber sicher der Sechs-Milliarden-Grenze. Am 12. Oktober 1999 – so die Statistiker der Vereinten Nationen – wird er sie überschreiten. Das ist eine Verdopplung seit 1960 – da bevölkerten erst drei Milliarden Menschen unseren Planeten. Lediglich zwölf Jahre hat die Menschheit gebraucht, um die sechste Milliarde Erdenbürger hervorzubringen.
Wahrscheinlich wird das sechsmilliardste Kind ein Junge, denn es werden weltweit mehr Jungen als Mädchen geboren (106 zu 100). Er wird voraussichtlich in ärmlicher Umgebung das Licht dieser Welt erblicken. Denn 98 Prozent des Bevölkerungswachstums finden heute in den Entwicklungsländern statt.
Doch die Sechsmilliarden-Marke bedeutet kein Haltesignal. Mit dem “Child Six Billion”, wie das Population Reference Bureau der Vereinten Nationen den Jubiläumsjungen nennt, werden am 12. Oktober 1999 – wie an jedem anderen Tag dieses Jahres – rund 375000 Kinder zur Welt kommen. Die Menschheit wächst am Ausgang des 20. Jahrhunderts mit geradezu beängstigender Geschwindigkeit.
Viele Zehntausende von Jahren hatte die Zahl der Menschen nur langsam zugenommen. Jesus Christus hatte weltweit etwa 300 Millionen Zeitgenossen – so viele, wie heute allein in der Europäischen Union leben. Auch danach blieb die jährliche Wachstumsrate im Vergleich zu heute geradezu winzig: nur 0,05 Prozent. Als Johann Wolfgang von Goethe 1749 geboren wurde, lebten mit ihm erst rund 700 Millionen Menschen auf diesem Planeten.
Doch dann lernte der Mensch, Hunger und Krankheiten zu bekämpfen. Das Bevölkerungswachstum beschleunigte sich, im 19. Jahrhundert lag die jährliche Wachstumsrate bereits bei 0,5 Prozent, und gleich zu Beginn des 19. Jahrhunderts erreichte die Weltbevölkerung die erste Milliarde. Im Gegensatz zu heute fand das damalige Wachstum vor allem in den entwickelten Ländern statt. Denn nur hier hatten die Menschen Zugang zu hinreichend sauberem Wasser und ausreichender Nahrung, nur hier setzten sich langsam Hygiene und medizinische Standards durch.
Seitdem geht es Schlag auf Schlag. Nach 130 Jahren war die zweite Milliardenhürde genommen, 1960 tummelten sich schon drei, 1975 vier Milliarden Menschen auf der Erde. Für Station fünf und sechs benötigte die immer schneller wachsende Menschheit nur noch je zwölf Jahre (siehe Kurve auf der linken Seite), die jährliche Wachstumsrate lag 1995 weltweit bei 1,4 Prozent. Jedes Jahr kommen rund 80 Millionen neue Erdenbürger hinzu – das ist alle 12 Monate ein neues Deutschland, alle 15 Jahre ein neues China.
Der arme Süden wächst schneller als der reiche Norden. Während 1950 noch 32 Prozent der Menschen in den Industrienationen des Nordens lebten, waren es 1990 nur noch 25 Prozent. Bis 2025 wird dieser Anteil sogar auf 15 Prozent sinken. Doch es wäre falsch, sämtliche Entwicklungsländer über einen Kamm zu scheren. Die Staaten Asiens, Lateinamerikas und Afrikas unterscheiden sich in ihrer Entwicklung ganz erheblich voneinander. Selbst innerhalb desselben Kontinents ist die Situation in einzelnen Ländern oft sehr unterschiedlich – und wird vor allem von politischen Gegebenheiten beeinflußt.
Das Bevölkerungswachstum hat sich insgesamt verlangsamt: Die Zunahme liegt in den letzten Jahren dieses Jahrhunderts bei nur noch 1,33 Prozent, errechneten UN-Experten in einer 1998 veröffentlichten Studie. Bereits vor zwei Jahren hatten die Vereinten Nationen ihre Bevölkerungsprognosen für das nächste Jahrhundert revidiert. Derzeit wird für 2050 eine Weltbevölkerung von etwa 9,4 Milliarden erwartet, fast eine halbe Milliarde weniger als in der vorausgegangenen Schätzung.
Doch diese Tendenz gilt nicht überall. Während in armen Regionen Lateinamerikas und Asiens die durchschnittliche Kinderzahl durch Familienplanungsprogramme um 43 beziehungsweise 42 Prozent gesunken ist, hat sich in Afrika südlich der Sahara fast nichts geändert. Hier wächst die Bevölkerung nach wie vor besonders schnell. 1998 lag die Zunahme dort bei 2,5 Prozent, während sie in Asien (ohne China) nur 1,8 Prozent betrug. Afrika braucht dringend Erfolge der Familienplanungsprogramme (siehe “Afrika: Traurige Rekorde, düstere Perspektiven” auf Seite 26).
Wie effektiv Initiativen sein können, die zu einer besseren gesundheitlichen Versorgung und Bildung von Frauen und Kindern beitragen, zeigt ein Beispiel aus Mittelamerika. Mit Hilfe einer Anschubfinanzierung aus den Industrieländern hat sich die Regierung Costa Ricas um eine medizinische Grundversorgung, sauberes Grundwasser und kostenlose Schulbildung für ihre Bevölkerung bemüht. Der Erfolg ist weithin spürbar: Unter den Erwachsenen gibt es nur noch sechs Prozent Analphabeten, die Lebenserwartung entspricht der in Industrieländern. Die Säuglingssterblichkeit sank von 62 pro 1000 Geburten (1970) auf 13 (1996). Die geringe Säuglingssterblichkeit wiederum führte zu einem erheblichen Rückgang der Geburtenzahlen. Hatte 1950 eine Frau in Costa Rica noch durchschnittlich sieben Kinder, so sind es heute drei.
All das wirkte sich positiv auf das ganze Land aus. Vor drei Jahren erlangte Costa Rica das “Reifezeugnis” der völligen Unabhängigkeit von Entwicklungshilfe-Geldern. Kritisch sind dagegen Chinas Bemühungen, das Wachsen der Bevölkerung zu bremsen. Die Ein-Kind-Familie wird von der Regierung seit 1972 mit harten Maßnahmen durchgesetzt. So müssen Paare, die ohne Erlaubnis ein zweites Kind bekommen, mit hohen Geldstrafen rechnen – manchmal sogar mit einer Zwangsabtreibung.
Die Behörden erreichen mit ihren strengen Kontrollen aber nicht immer das gewünschte Ziel, wie sich bei Volkszählungen am Rand der Flutkatastrophe 1998 herausstellte: Statt auf die Einhaltung der Vorschriften zu drängen, haben offensichtlich lokale Ämter jahrelang die Statistiken gefälscht, um vor Peking zu verbergen, daß auf dem Land etliche Familien mehr als nur ein Kind haben. Nach Schätzung von Prof. Peng Xizhe von der Fudan-Universität existieren zirka 30 Millionen Chinesen, die in keiner Statistik auftauchen.
Am Ende des 20. Jahrhunderts richten die Bevölkerungswissenschaftler und -politiker ihr Augenmerk vor allem auf die junge Generation. Weltweit 800 Millionen Menschen werden im Jahr 2000 Jugendliche sein. Von dieser größten Jugendgeneration, die es je gegeben hat – sie stellt rund ein Siebtel der Weltbevölkerung -, hängt es entscheidend ab, wie es mit der Erde und der Menschheit weitergeht.
Durch die hohen Geburtenraten der Vergangenheit ist vor allem in Entwicklungsländern der Anteil junger Leute sehr hoch.
Das bedeutet auch fürs dritte Jahrtausend eine lange Periode des Wachstums, auch bei weiterhin rückläufigen Geburtenraten. Denn selbst wenn jedes Paar sich mit zwei Kindern nur selbst “ersetzt” – die Demographen sprechen vom “Ersatzniveau” -, steigt die Zahl der Menschen in diesem Land so lange weiter, wie mehr Jugendliche ins fortpflanzungsfähige Alter kommen.
Das Zusammentreffen von junger Bevölkerungsstruktur und hoher Fertilität ist – bevölkerungspolitisch betrachtet – eine explosive Mischung. In Äthiopien zum Beispiel ist fast die Hälfte der Bevölkerung unter 15 Jahre alt. Die Äthiopierinnen gebären im Laufe ihres Lebens durchschnittlich sieben Kinder. In dem ostafrikanischen Land liegt die “natürliche Wachstumsrate” (Geburten pro 1000 Einwohner minus Todesfälle pro 1000 Einwohner) bei 2,5 Prozent. Ergebnis: Die Bevölkerung Äthiopiens verdoppelt sich alle 28 Jahre.
Wie stark sich der Kinderwunsch der zukünftigen Eltern auf die gesamte Menschheitsentwicklung auswirken wird, zeigt ein Blick auf die Bevölkerungsprognosen der Vereinten Nationen (siehe Grafik unten): Läge die durchschnittliche Kinderzahl bei undramatisch klingenden 2,5 pro Elternpaar, würde die Weltbevölkerung im Jahr 2050 bereits auf 10,7 Milliarden angewachsen sein. Bei lediglich 1,6 Kindern pro Paar würde die Zahl der Menschen im Jahr 2050 einen Höchststand von nur 7,3 Milliarden erreichen und im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts sogar sinken – bis auf 3,6 Milliarden im Jahr 2150.
Familienplanungsprogramme sind auch in den kommenden Jahrzehnten unverzichtbar, um einem ungebremsten Bevölkerungsanstieg entgegenzuwirken. Besonders wichtig ist es, Bildung und Ausbildung der Mädchen und jungen Frauen zu fördern, um einen deutlichen Rückgang der Geburtenraten zu erreichen. Offiziell formuliert wurde dies 1994 von den Teilnehmerstaaten der Kairoer Weltbevölkerungskonferenz (siehe “Mütter mit Bildung haben weniger Kinder” auf Seite 23).
Doch nicht nur Familienplanung verlangsamt das Bevölkerungswachstum. Auch Krankheiten spielen eine – wenn auch ungewollte und inhumane – Rolle. Nach wie vor bereiten Infektionskrankheiten wie Malaria und Tuberkulose in vielen Teilen der Welt große Probleme. Killer Nummer eins in den Entwicklungsländern ist inzwischen das HI-Virus (HIV): Knapp 14 Millionen Menschen sind bislang durch die Immunschwächekrankheit Aids gestorben. Besonders schlimm sieht es auch hier in Afrika aus. Von den heute weltweit 33 Millionen HIV-Infizierten leben allein 22 Millionen in Afrika, in Süd- und Südostasien sind es 6 Millionen. Vor allem auf dem Schwarzen Kontinent wird das Virus die Bevölkerungstatistiken in den nächsten zwei Jahrzehnten nachdrücklich beeinflussen (siehe “Das Killer-Virus tötet immer mehr Kinder”, nächste Seite).
Und nach wie vor sterben Menschen an Hunger oder siechen mangelernährt ihrem Ende entgegen. Ein Fünftel der Bevölkerung in den Entwicklungsländern ist chronisch unterernährt.
Zwar können immer mehr Menschen von einem einzigen Landwirt ernährt werden. Allein in Deutschland stieg diese Zahl von 1950 bis 1998 von 10 auf 108 Personen. Doch für die Zukunft besteht für Optimismus kein Grund: Es drohen negative Auswirkungen der immer effektiveren industrialisierten Landwirtschaft auf das Ökosystem Erde, auch auf die Ernteerträge selbst. Stichworte: Belastung von Grund- und Oberflächenwasser durch Dünger und Pestizide, Bodenerosion, genetische Verarmung der Nutzpflanzen, wachsende Monopolisierung des Saatguts in den Händen weniger weltweiter Agro-Konzerne.
Das Wissenschaftler-Ehepaar Paul R. und Anne H. Ehrlich von der Stanford University schrieb im Buch “The Population Explosion”: “Mit unserer schieren Zahl steuern wir geradezu auf eine Katastrophe zu. Wenn es der Menschheit nicht zu handeln gelingt, wird die Natur die Bevölkerungsexplosion auf uns höchst unangenehme Weise beenden, noch bevor die zehn Milliarden erreicht sind.” (Siehe auch Interview “Ehrlich wettet nicht mehr”, Seite 24).
Diese Vision war allzu schwarzgemalt. Immerhin stiegen die Ernteerträge in den Entwicklungsländern von 1965 bis 1990 um 117 Prozent – wobei Asien der Löwenanteil zufällt. Mit dem erklärten Ziel, dem Hunger in der Welt den Kampf anzusagen, unterstützten die Rockefeller- und die Ford-Stiftung die Züchtung von Hochertragssorten bei Weizen, Reis und Mais und läuteten damit die “Grüne Revolution” ein. Der amerikanische Forstwissenschaftler und Pflanzenpathologe Norman Borlaug erhielt für seine erfolgreichen Züchtungen 1970 den Friedensnobelpreis.
Dennoch zieht der heute 83jährige keine ungetrübt positive Bilanz seines Lebens: “Die sogenannte Grüne Revolution konnte die Probleme der chronischen Unterernährung von Hunderten von Millionen armer Menschen nicht lösen. Sie sind nach wie vor unfähig, sich die Nahrung zu verschaffen, die sie brauchen, ungeachtet des Überflusses, der auf den Weltmärkten herrscht.”
Einer von mehreren Gründen ist: Die Bevölkerung in vielen Teilen der Welt, vor allem aber in Afrika, wuchs noch schneller als die Ernten. So hat trotz aller Ertragssteigerungen auch auf dem Schwarzen Kontinent die Pro-Kopf-Menge an Nahrungsmitteln zwischen 1965 und 1990 sogar um etwa 20 Prozent abgenommen. In Asien dagegen nahm sie zur gleichen Zeit um 40 Prozent zu. Von den 800 Millionen mangelernährter Menschen weltweit lebt nach Einschätzung der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung die Mehrzahl in Afrika, südlich der Sahara.
Ein weiterer Grund: Viele Bauern können gar nicht von den Errungenschaften der modernen Landwirtschaft profitieren. Es sind nicht die Hochleistungs-Getreidesorten allein, die den erhofften Erntesegen bringen, sondern der gleichzeitige Einsatz von ausreichender Bewässerung, maßvollem Gebrauch von Pflanzenschutz- und Düngemitteln sowie von Maschinen. Doch neben allen ökologischen Problemen, die diese Art der Landwirtschaft mit sich bringen kann, ist sie für Kleinbauern in Afrika oder Lateinamerika schlicht viel zu teuer.
Der Wettlauf zwischen Storch und Pflug heizt darüber hinaus die Erosion an. Während die Weltbevölkerung jährlich um rund 80 Millionen Menschen wächst, verringert sich im gleichen Zeitraum das Ackerland um schätzungsweise 25 Milliarden Tonnen fruchtbaren Boden.
Besonders quälend an alledem ist: Diese Trends und Fakten sind seit Jahren bekannt, ohne daß ihnen wirksam entgegengesteuert wurde. Immerhin hat die internationale Staatengemeinschaft im letzten Jahrzehnt des ausgehenden Jahrhunderts anerkannt, daß Investitionen in die Lösung der Bevölkerungsprobleme der Entwicklungsländer die Welt insgesamt sicherer machen. So steht es in einem Papier des Population Reference Bureau in der US-Bundeshauptstadt Washington.
An diversen Mahnungen und Aufrufen herrscht kein Mangel. Der Aktionsplan der Welternährungskonferenz in Rom forderte vor drei Jahren unter anderem ein Menschenrecht auf Nahrung. Doch so etwas läßt sich nicht allein durch verbesserte Anbaumethoden und ertragreichere Pflanzensorten verwirklichen. Jedem Menschen genug zu essen zu verschaffen, ist nicht eine Frage der Produktion, sondern der Nahrungsmittelverteilung – lokal wie global.
Hier müssen vor allem die Politiker handeln. Nahrungsengpässe bestehen schließlich auch in Ländern wie der Demokratischen Republik Kongo (bis Mitte 1997: Zaire), die über reichlich Wasser und Ackerland verfügt. Zu den Hauptursachen zählen, im Kongo wie in anderen Entwicklungsländern: Erstens Fehlentscheidungen der betreffenden Regierungen – die Weltbank hat wiederholte Male darauf hingewiesen, daß Preiskontrollen und Handelsbeschränkungen der heimischen Landwirtschaft schaden. Zweitens begünstigen überbewertete Währungen oft den Import ausländischer Waren, auch von Nahrungsmitteln. Drittens werfen viele entwickelte Länder bewußt ihre landwirtschaftlichen Überschüsse billig in armen Ländern auf den Markt. Das ruiniert auf die Dauer die heimische Landwirtschaft.
Warum sollte ein Kleinbauer in Mali oder Guinea zu hohen Zinsen Geld leihen und Saatgut kaufen, um mehr Bohnen oder Hirse anzubauen, als er selbst zum Leben braucht? Er weiß schließlich, daß er auf dem örtlichen Markt gegen die Konkurrenz aus US- oder EU-Überschüssen nicht wettbewerbsfähig ist. Gutgemeinte Hilfslieferungen von Lebensmitteln, die gratis verteilt werden – und gelegentlich über dunkle Kanäle plötzlich zu Schleuderpreisen auf dem Markt auftauchen -, haben denselben Effekt.
Hinzu kommt, daß viele Regionen in Afrika und Asien politisch instabil sind. Die verheerendsten Hungersnöte der letzten Jahre gab es in Bürgerkriegsgebieten, beispielsweise in Äthiopien, Somalia und Sudan. Oft haben anhaltende Dürren die sozialen und politischen Unruhen noch geschürt. Die dann ausgetragenen Konflikte verhinderten eine Erholung der Landwirtschaft und eine gerechte Verteilung der vorhandenen Nahrungsmittel. Die militärische Macht von Clans oder Regimen entscheidet dann, wer wieviel zu essen bekommt. Ein bedrükkendes Beispiel unserer Tage ist Nordkorea. Dort darbt ein ganzes Volk unter politisch verordnetem Hunger. Immer mehr Frauen erhalten heute auch in armen Ländern eine Grundschulbildung von etwa sieben Jahren. Das hat erhebliche Auswirkungen auf das Leben der Mädchen. Sie heiraten oft deutlich später und gründen auch später eine Familie. Diese Entwicklung ist nicht auf die Entwicklungsländer beschränkt. Auch in den USA und in Großbritannien ist der Prozentsatz der Frauen, die mit 18 bereits ein Kind hatten, unter den 20- bis 24jährigen ohne Schulbildung erheblich höher als bei ihren gebildeteren Altersgenossinnen. Für die Weltbevölkerung wäre das generelle Hinauszögern der ersten Geburt ein gewaltiger Schritt zum Besseren: Gelänge es, die Geburt des ersten Kindes künftig um durchschnittlich zweieinhalb Jahre zu verschieben, würde sich das erwartete Bevölkerungswachstum bis zum Jahr 2100 um 600 Millionen Menschen verringern.
Ehrlich wettet nicht mehr bild der wissenschaft: Vor 30 Jahren schrieben Sie “The Population Bomb”. Tickt die Bevölkerungsbombe noch?
Ehrlich: Und wie. Überbevölkerung ist ein großes Problem. Es leben derzeit dreimal mehr Menschen, als unsere Erde langfristig verkraftet. Das Optimum läge bei maximal 1,5 bis 2 Milliarden.
bild der wissenschaft: Kein Ausweg in Sicht?
Ehrlich: Doch, denn mittlerweile wissen wir ganz gut, wie Geburtenkontrolle möglich ist. Es besteht daher die Chance, daß das Bevölkerungswachstum im nächsten Jahrhundert zum Stillstand kommen wird. Wir werden dann 8 bis 8,5 Milliarden Menschen zählen.
bild der wissenschaft: Was ist jetzt am vordringlichsten?
Ehrlich: Unsere Konsumgewohnheiten zu ändern. Der Einfluß jedes einzelnen auf das Ökosystem steigt drastisch. So machen die US-Amerikaner nur 5 Prozent der Weltbevölkerung aus, verbrauchen aber 24 Prozent der globalen Energie.
bild der wissenschaft: Welchen Rat geben Sie Politikern und Führungskräften in Wirtschaft und Wissenschaft?
Ehrlich: Zunächst einmal: Paul R. Ehrlich ist Professor für Bevölkerungsstudien der Stanford University und Bestsellerautor (“The Population Bomb”, 1968). 1980 wettete er mit dem US- Ökonomen Julian Simon, fünf beliebige Metalle würden zehn Jahre später knapper und damit teurer geworden sein. Der Verlierer sollte dem Wettsieger die Differenz der Marktwerte auszahlen, zu denen diese Metalle 1990 gehandelt würden. Ehrlich wählte Kupfer, Chrom, Nickel, Zinn und Wolfram. Er verlor und überwies 576 Dollar an Simon.
Es gibt zu viele Politiker und zu wenige Führungskräfte. Die USA haben zweifellos das dümmste Repräsentantenhaus seit 1875. Diese Leute sind von den wirklichen Problemen unserer Welt weit entfernt. Impulse zur Reduktion des Konsums sind eher von Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Wissenschaft zu erwarten. Politiker sind zu ängstlich, um sich mit den negativen Folgen von Konsum zu befassen, denn schließlich kommt ihr Geld daher. In diesem Zusammenhang möchte ich Friedrich Schiller zitieren: “Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.”
bild der wissenschaft: Würden Sie zwei Jahrzehnte nach der Wette mit Julian Simon heute eine ähnliche abschließen?
Ehrlich: Nein, jedenfalls nicht auf der Basis von Metallen. Simon hatte übrigens darauf bestanden, daß es bei unserer Wette nur um Metalle gehen durfte. Später hat er mir eine erneute Wette angeboten, und ich habe ihm 1994 – zusammen mit dem Primatologen Steven Schneider – einen detaillierten Vorschlag gemacht: mit 15 verschiedenen Parametern, beispielsweise Überfischung, Erhöhung der bodennahen Ozonkonzentration und Zunahme des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre. Bestimmte Werte, so mein Wettvorschlag, sollten bis 2004 zum Schlechteren verändert sein. Simon hat jedoch gekniffen und immer nur gesagt: “Die Welt wird besser!”
bild der wissenschaft: Ist nicht manches besser geworden – etwa die medizinische Versorgung?
Ehrlich: Teilweise. Generell wird das Leben der Menschen künftig schlechter sein. Man kann es selbst hier in Amerika sehen: Die Lücke zwischen Arm und Reich klafft immer weiter.
bild der wissesnchaft: Wie werden die Menschen im 21. Jahrhundert leben?
Ehrlich: Unsere Zukunft hängt von Faktoren ab, die sehr schwer zu prognostizieren sind. Haben wir mit dem Klima und mit neuen Krankheiten Glück, dann gibt es wohl auch noch in 100 Jahren eine Zivilisation ähnlich der heutigen.
bild der wissenschaft: Sie sind also doch Optimist?
Ehrlich: Oh ja, sonst hätte ich schon den Schierlingsbecher geleert. Das Gespräch führte bdw-Mitarbeiterin Desirée Karge.
Afrika: Traurige Rekorde, düstere Perspektiven Von den zehn Ländern mit dem weltweit höchsten Bevölkerungswachstum liegen fünf auf dem Schwarzen Kontinent. Von den zehn Staaten mit der höchsten Kinderzahl je Frau sind es sogar sieben. Allen Familienplanungsprogrammen zum Trotz liegt die Gesamtfruchtbarkeitsrate in Afrika durchschnittlich noch immer bei sechs Kindern pro Frau. Die Lebenserwartung ist allerdings in vielen afrikanischen Ländern extrem niedrig, im westafrikanischen Sierra Leone ist sie mit durchschnittlich nur 34 Jahren die niedrigste der Welt.
Das Killer-Virus tötet immer mehr Kinder In Afrika entscheidet das Immunschwäche-Virus HIV mit über das Bevölkerungswachstum. 2015 werden etwa acht Prozent weniger Menschen auf dem Schwarzen Kontinent leben als ohne den Beutezug des Aids-Erregers. Die Krankheit wird außerdem die Kindersterblichkeit in den kommenden 15 Jahren um rund zehn Prozent erhöhen und die Lebenserwartung der Afrikaner im Durchschnitt um etwa acht bis neun Jahre senken. 2,5 Millionen Aids-Tote waren es 1998 weltweit.
Susanne Liedtke / Désirée Karge / Paul R. Ehrlich