Am 17. Januar 1873 trat Rudolf Virchow, bekannter Wissenschaftler und Abgeordneter der linksliberalen Fortschrittspartei, ans Rednerpult des preußischen Abgeordnetenhauses. Er legte seinen Kollegen eindrücklich dar, dass er die Maßnahmen Bismarcks gegen die katholische Kirche für unerlässlich hielt. Der berühmte Arzt und Naturforscher war davon überzeugt, dass man sich mitten in einem „Kulturkampf “ von historischem Ausmaß befand. Damit war der Begriff gefallen, der zur Kampfparole aller gesetzlichen Schikanen wurde, denen katholische Geistliche im Deutschen Reich ausgesetzt waren. Erfunden hatte Virchow den Begriff zwar nicht – Ferdinand Lassalle hatte ihn bereits zehn Jahre zuvor geprägt –, er aber war es, der ihn in Umlauf brachte.
Ausgerechnet Virchow, ansonsten ein erbitterter Gegner Bismarcks, unterstützte vorbehaltlos dessen Kulturkampfpolitik, die sich letztlich gegen den Einfluss des Papstes richtete. Virchow sah einen grundsätzlichen Konflikt zwischen Glaube und Wissenschaft, in dem es um den kulturellen Führungsanspruch ging. Lange Zeit sei die Kirche der wahre Träger einer „allgemeinen humanen Kultur“ gewesen. Nun aber erblickte er in ihr nur noch Dogmatismus, Stagnation und Verdunkelung. In seinem liberalen Fortschrittsdenken sollte fortan die Wissenschaft den Kulturauftrag übernehmen, um die Entwicklung der Menschheit voranzubringen.