Polens erster demokratisch gewählter Staatspräsident übte sein Amt ganze fünf Tage aus. Dann erschoss ein rechtsradikaler Fanatiker am 16. Dezember 1922 Gabriel Narutowicz hinterrücks. Narutowiczs politische Karriere war nicht zwingend vorgezeichnet. Der 57 Jahre alte Ingenieur hatte nämlich den Großteil seines Lebens, 34 Jahre, fernab in der Schweiz verbracht. Als Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich hatte er einen Lehrstuhl für Wasserbau innegehabt und in der Stadt ein erfolgreiches Baubüro für Wasserversorgung betrieben. Erst mit 55 Jahren war er 1920 für den Wiederaufbau Polens zurückgekehrt. Zunächst als Minister für Öffentliche Arbeit und dann als Außenminister stellte er sich in den Dienst der neugeschaffenen polnischen Republik.
Polen war nach dem Ersten Weltkrieg ein Vielvölkerstaat. Das hatte Folgen: Ein Drittel seiner Bevölkerung gehörte einer „fremden Nationalität“ an, dazu lebten zwei Millionen Juden im Land. Nationalismus und Antisemitismus prägten das öffentliche Klima. In der Nationalversammlung waren es schließlich die Stimmen der Minderheiten, die den parteilosen Narutowicz mit seiner gemäßigten Agenda in das Amt des Staatspräsidenten wählten. Diffamiert als „Nicht-Pole“ (Narutowiczs Geburtsort gehörte zum russischen Zarenreich), der von „Nicht-Polen“ gewählt wurde, galt er in nationalistischen Kreisen als nicht tragbar. Diese heizten die Stimmung mit einer öffentlichen Hetzkampagne derart auf, dass sie den Attentäter schließlich zum politischen Mord motivierten.