Die Arbeiter wussten nicht, was sie da in Händen hielten. Beim Bau einer Festungsanlage der Medici in der Nähe des italienischen Arezzo waren sie auf eine Reihe von Bronzeskulpturen gestoßen, darunter auf ein Tier, knapp 80 Zentimeter hoch, mit aufgerissenem Maul und mächtiger Mähne. Ein Schwanz fehlte. Ein Löwe also? Auf Geheiß Cosimo de’ Medicis wurde die Skulp-tur im Palazzo Vecchio in Florenz aufgestellt. Der Fund war eine Sensation, ein Höhepunkt etruskischer Kunst aus dem fünften bzw. vierten vorchristlichen Jahrhundert. Zeitgenössische Künstler, darunter Giorgio Vasari und Tizian, waren begeistert.
Doch Vasari zweifelte daran, dass es sich wirklich um einen Löwen handelte. Stellte die Figur nicht viel eher eine Chimäre dar, jenes feuerspeiende Ungeheuer aus der griechischen Mythologie, das den Kopf und Körper eines Löwen, als Schwanz eine Schlange und auf dem Rücken einen Ziegenkopf hat? Vasari sah sich durch antike Münzen bestätigt, und unter den kleineren Bruchstücken des Funddepots fand sich tatsächlich ein abgebrochenes Stück des Schwanzes. Die Figur zeigt die Chimäre wohl im Todeskampf gegen ihren Bezwinger Bellerophon. Vermutlich war sie ursprünglich Teil einer Gruppe mitsamt dem Helden auf seinem geflügelten Pferd Pegasus. Die Inschrift „TINSCVIL“ am Fuß der Chimäre wird als „Geschenk an Tinia“ gedeutet – das Ungeheuer war also eine Votivgabe an den etruskischen Gott Tinia.