Die tönernen Keilschrifttafeln der Sumerer, Hethiter und Babylonier gehören zu den ältesten Schriftdokumenten der Welt. Um die bis zu 5000 Jahre alten Texte zu entziffern, haben Forscher jetzt eine neue KI-Methode entwickelt. Dabei trainierten sie eine künstliche Intelligenz zunächst darauf, die einzelnen Schriftzeichen einer Tafel voneinander zu trennen. Im zweiten Schritt folgte die Deutung dieser Keilschrift-Zeichen. Das Verfahren könnte dabei helfen, Keilschrifttafeln künftig schneller zu entziffern und auch miteinander zu vergleichen.
Die ersten Versionen der Keilschrift wurden schon um 3300 vor Christus von den Sumerern in Mesopotamien entwickelt. Viele dieser Zeichen bestanden aus Piktogrammen, die anfangs noch eher einer Bilderschrift glichen, dann aber im Laufe der Zeit immer weiter abstrahiert und zu stilisierten Laut- und Silbenzeichen wurden. Im Laufe der Jahrtausende breitete sich die Keilschrift über weite Teile des Nahen und mittleren Ostens aus und bildete die Grundlage für die Schriften der Akkadier, Assyrer, Hethiter und Babylonier.
Auf die Feinheiten kommt es an
Archäologen haben bei Ausgrabungen im Verbreitungsgebiet dieser Kulturen bereits zehntausende von Keilschrifttafeln entdeckt. Entzifferungen der Schrift zeigen, dass der Inhalt dieser Tafeln ein breites Themenspektrum abdeckt: “Auf ihnen ist alles zu finden: vom Einkaufszettel bis hin zu Gerichtsurteilen. Die Tafeln ermöglichen einen Blick in die Vergangenheit des Menschen vor mehreren Jahrtausenden”, erklärt Hubert Mara von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU). “Allerdings sind viele Keilschrifttafeln stark verwittert und selbst für geübte Augen nur schwer zu entziffern.”
Besonders schwierig, aber für die Bedeutung der Zeichen entscheidend, ist die Frage, ob ein Abdruck eine eingeritzte Linie und einen dreieckigen Keil darstellt. Um die Zeichen richtig zu deuten, sind daher nicht nur optimale Lichtverhältnisse, sondern auch viel Hintergrundwissen nötig. Erschwerend kommt hinzu, dass das damalige Schriftsystem sehr komplex war und für mehrere Sprachen benutzt wurde. “Bislang ist der Zugriff auf den Inhalt der Keilschrifttafeln schwierig – man muss schon genau wissen, wonach man wo sucht”, sagt Mara. Zwar gibt es erste Versuche mit lernfähigen Programmen, diese erbrachten aber gerade bei schlechter erhaltenen Keilschrifttafeln nur mäßige Ergebnisse.
Entzifferung in zwei Stufen
Mara und sein Team haben daher untersucht, inwieweit die künstliche Intelligenz bei der Entzifferung der Keilschrifttexte helfen kann. Dafür entwickelten die Forscher ein zweistufiges System, das auf Basis von rund 200 3D-Scans von Keilschrifttafeln und zusätzlichen Informationen über die Schriftsysteme trainiert wurde. Im ersten Schritt lernte das KI-System dabei, die einzelnen Zeichen und ihre jeweils zusammengehörenden Komponenten auf einer Schrifttafel zu erkennen und voneinander zu trennen. Im nächsten Schritt folgte dann die genauere Analyse der Einzelzeichen und die Unterscheidung von Linien und keilförmigen Kerben.
Zusammen ermöglicht es dieses Verfahren, die Keilschrifttexte auf ähnliche Weise zu entschlüsseln und zu digitalisieren wie die bereits für Fotografien und digitalen Scans von modernen Dokumenten eingesetzte OCR-Methode (Optical Character Recognition). Der Prototyp des neuen KI-Systems konnte in ersten Tests bereits Keilschrifttafeln aus unterschiedlichen Zeitperioden entziffern, wie Mara und sein Team berichten. Besonders treffsicher war ihr digitaler Entzifferungshelfer bei kleineren Keilschrifttafeln, kleinere Schwächen zeigte er dagegen in den Randbereichen größerer Textblöcke.
Präziser als bisherige Methoden
Insgesamt schnitt das neue zweistufige KI-System besser ab als bisherige Methoden, bei denen oft auch schon lernfähige Algorithmen zum Einsatz kamen. Weil diese KI-Modelle aber meist nur auf Basis von Fotografien der Tafeln trainiert wurden, haperte es noch bei der Präzision der Entzifferung, wie das Team erklärt. Im Gegensatz dazu lernte ihr neu entwickeltes KI-System anhand von 3D-Scans, konnte dann aber auch Fotos von Keilschrifttafeln entschlüsseln. “Überraschenderweise funktioniert unser System sogar sehr gut bei Fotografien, die eigentlich ein schlechteres Ausgangsmaterial darstellen”, berichtet Ernst Stötzner von der MLU.
Einmal in digitalen Computertext umgewandelt, lassen sich die Keilschriftzeichen einfacher lesen. Gleichzeitig wird es durch die digitale Entzifferung möglich, den Inhalt vieler Tafeln zu durchsuchen und miteinander zu vergleichen. Das eröffnet völlig neue Perspektiven für die Forschung, wie die Forscher erklären. Bisher beherrscht ihr Prototyp nur zwei der insgesamt zwölf bekannten Keilschriftsprachen. Doch das KI-System ist ausbaufähig und kann auch auf weitere Sprachen und Schrifttypen trainiert werden.
Quelle: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Fachartikel: GCH 2023 – Eurographics Workshop on Graphics and Cultural Heritage, doi: 10.2312/gch.20231157