Christopher Clark hat mit seinem Buch über Preußen in Großbritannien und auch in Deutschland Furore gemacht. Nun liegt seine Biographie Wilhelms II. auf Deutsch vor. Clark untersucht, wie es um die tatsächliche Macht des letzten deutschen Kaisers bestellt war, eine Frage, die schon seit dem Kaiserreich heftig umstritten ist. Manche sehen Wilhelm II. als einen neo-absolutistischen Herrscher, der direkt und indirekt das gesamte politische Leben in Deutschland beeinflusst hat; in dieses Lager gehört sicherlich John Röhl, dessen abschließender Band zu Wilhelm II. jetzt erschienen ist. Auf der anderen Seite wurde Wilhelm II. von Zeitgenossen und Historikern als „Schattenkaiser“ bezeichnet, der nicht das Format hatte, die politischen Geschehnisse nachhaltig mit zu bestimmen.
Clark sieht vor allem in der Personalpolitik Gestaltungsmöglichkeiten Wilhelms. Der Kaiser konnte die Spitzen von Politik und Militär selbst ernennen bzw. entlassen. Allerdings vermisst der Autor ein klares Programm; Wilhelms Interventionen waren zu spontan und willkürlich, als dass sie wirklich Gewicht hätten erlangen können. Dies gilt nach Clark selbst für die Jahre, in denen das „Persönliche Regiment“ des Kaisers auf einem Höhepunkt gewesen sein soll.
Wilhelms innenpolitische Initiativen scheiterten fast vollständig, und der Kaiser verlor dann schnell das Inter-esse. Hingegen betrachtete er die Außenpolitik als sein ureigenstes Feld und betrieb eine Besuchsdiplomatie, wobei er den Stellenwert persönlicher Beziehungen zwischen den Herrschern Europas und deren Handlungsfreiheit überschätzte. In Bezug auf die Schlachtflotte scheint Clark die Rolle Wilhelms II. allerdings zu unterschätzen; es scheint fraglich, ob Tirpitz ohne kaiserliche Rückendeckung sein Flottenprogramm hätte realisieren können.
Clark bewertet die Eingriffe Wilhelms II. in die Politik sehr kritisch, hält ihm aber bisweilen wohlmeinende Intentionen zugute. Der Kaiser ist hier, anders als bei John Röhl, ein tolpatschiger, politisch untalentierter, viel zu impulsiver Herrscher und ein taktloser öffentlicher Redner. Aber er ist kein Bösewicht. Clark weist darauf hin, dass sich unser Wilhelm-Bild aus den klatschsüchtigen Quellen des Kaiserreichs oder denen der politischen Gegner, das heißt der Entente-Mächte, speist, während der Kaiser im neutralen Ausland weit besser beurteilt wurde.
Christopher Clark ist eine sehr gut lesbare – übrigens auch gut übersetzte – Synthese gelungen, die ein plausibles Bild über den letzten deutschen Kaiser entwirft und dem Leser durch kluge und ausgewogene Argumentation viel Freude machen wird.
Rezension: Afflerbach, Holger