Um dieses Buch angemessen zu beurteilen, muss man die mit ihm verknüpften Perspektiven, Absichten und Ziele zugrunde legen: Der Autor möchte Geschichte auf dem aktuellen Stand der Forschung einem breiteren, jüngeren, nicht akademisch trainierten und daher mit dem wissenschaftlichen Metajargon auch nicht vertrauten Publikum vermitteln. Das ist ein ebenso legitimes wie für das künftige Überleben des Fachs an Gymnasien und Universitäten (über)lebenswichtiges Unterfangen, das besondere Strategien und Vorgehensweisen rechtfertigt, die hier exemplarisch zur Geltung kommen: Dominanz des Erzählerischen, Aufteilung des Themas in kurze, bildkräftige, ereigniszentrierte Sequenzen, rasche Szenenwechsel, speziell durch Brückenschläge von der Vergangenheit in die Gegenwart, Fokussierung auf Kumulationspunkte, Anbindung an Vorwissen und Erwartungen des Publikums.
Diese unübersehbar an Web-Ästhetik angelehnte Technik erlaubt thematische Parforceritte; in rasantem Thema durchmessen wird so eine Geschichte der Schweiz zwischen 1789 und 1815 unter besonderer Berücksichtigung Frankreichs und zugleich eine Biographie Napoleon Bonapartes unter besonderer Berücksichtigung der Schweiz und ihrer historischen Mythen. Nach diesen Kriterien sorgfältig sortierte Reportage-Schwerpunkte sind das Massaker an der königlichen Schweizer Garde im August 1792, dem der junge korsische Offizier Bonaparte zufällig beiwohnt, die Planung und Durchführung der militärischen Eroberung der Alten Eidgenossenschaft im Winter 1797/98 sowie der Widerstand der katholischen Orte und die Rolle des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi bei der Linderung des Elends nach dessen brutaler Niederschlagung. Weitere Schwerpunkte sind die Umgestaltung der Schweiz zu einem von französischen Truppen besetzten und ausgeplünderten Zentralstaat, dessen nach inneren Unruhen unumgängliche Rückführung zu einem föderalen Gebilde in der sogenannten Mediation von 1803, das durch die Gleichstellung der ehemaligen Untertanengebiete zukunftsfähig gemacht wurde, das heroische Aushalten schweizerischer Truppenverbände an der Beresina während des Winter-Rückzugs aus Russland 1812 und, als Ausblick, die Weichenstellung zur Neutralität auf dem Wiener Kongress. Alles stets unter Herausarbeitung der konstruktiven (1803) oder destruktiven (1812) Rolle des Generals, Ersten Konsuls und Kaisers Napoleon, die von zahlreichen Quellenzeugnissen und aussagekräftigem Bildmaterial zusätzlich
illustriert wird.
Dass es bei dieser atemberaubenden Tour d’Horizon manchmal sehr plakativ zugeht, komplexe Sachverhalte allzu griffig zusammengefasst werden und ausschlaggebende „Hintergrundmotive“ wie zum Beispiel die Mentalitäten und Weltsichten breiterer Schichten im Alpenraum oder Napoleons Rousseau-Rezeption eingehendere Analysen verdient hätten, erklärt sich aus der Konzeption des Texts, der seine selbstgestellte Aufgabe, eine wichtige Etappe der historischen Entwicklung zur modernen Schweiz und damit zum Verständnis der Gegenwart zu schildern, dennoch exemplarisch erfüllt und daher als „Einstiegslektüre“ für diese Thematik uneingeschränkt empfohlen werden kann.
Rezension: Prof. Dr. Volker Reinhardt
Thomas Schuler
Napoleon und die Schweiz
NZZ Libro, Basel 2022, 296 Seiten, € 36,–