Viel weiß man über das Leben und Leiden in großen Ghettos wie Warschau oder £ód ´z. Weniger bekannt sind jedoch die vielen Kleinstadt-Ghettos, die es zu Hunderten im deutsch besetzten Polen gab. Dass dorthin, mitten in die polnische Provinz, auch Tausende Juden aus dem „Großdeutschen Reich“ deportiert wurden, ist hingegen nahezu unbekannt.
Wilhelm und Johanna Schischa aus Wiener Neustadt gehörten zu der großen Zahl jener, die 1941 nach Polen deportiert worden waren. 114 ihrer zahlreichen Briefe aus Opole Lubelskie an die daheimgebliebenen Familienangehörigen sind erhalten und in dieser lesenswerten Edition abgedruckt. Die Fremde, die Ungewissheit über das eigene Schicksal, die Sorge um die Nächsten, die Alltagsnöte und immer wieder das Dürsten nach Informationen und nach Kontakt mit den in Österreich Zurückgebliebenen – das sind die beherrschenden Themen ihrer Briefe, die bis Ende Januar 1942 überliefert sind.
Vieles jedoch konnten sie aus Angst nicht schreiben oder wollten es nicht, um die Lieben daheim nicht zu beunruhigen. So ist der Leser scheinbar nah dran an Wilhelm und Johanna Schischa und bleibt doch in Distanz, muss Lücken füllen, zwischen den Zeilen lesen, die politische Großwetterlage, die nicht vorkommt, mitdenken.
So häufen sich seit November 1941 zum Beispiel beruhigende Worte an die Familie, der Grund dafür, die begonnenen Deportationen aus dem Deutschen Reich, wird jedoch mit keinem Wort direkt angesprochen.
Diese Leerstellen füllen Kommentar und Nachwort nur bedingt, in erster Linie bieten sie Orientierung über die familiären Verhältnisse und informieren den Leser über das Ende der Schischas: Wilhelm wurde vermutlich Ende März, Johanna im Mai 1942 ins Vernichtungslager deportiert und dort getötet.
Das Buch vermittelt vor allem eine plastische Vorstellung davon, was es für Menschen heißen kann, von einem auf den anderen Tag aus ihrem Zuhause gerissen und in eine vollkommen fremde, ihnen feindselig und primitiv erscheinende Umgebung gezwungen zu werden. Man kann besser verstehen, was sich konkret hinter der vielfach zu lesenden Wendung „wurde am … nach … deportiert“ an Gefühlen, Hoffnungen, Ängsten und Illusionen verbirgt. Zu einer weiteren Beschäftigung mit dem Thema laden die (nicht immer ganz aktuellen) Literaturhinweise und Links am Ende des Buches ein.
Rezension: Dr. Markus Roth