Spätestens, aber nicht erst seit dem 24. Februar 2022 gewinnt die Frage, was unter einem Tyrannen zu verstehen sei, an Bedeutung. Denkt man etwa an autoritäre Entwicklungen in EU-Staaten oder der Türkei, an die US-Präsidentschaft Donald Trumps, den harschen Kurs von Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping oder die Brutalität des syrischen Machthabers Baschar al-Assad, ist das Thema seit mehr als einem Jahrzehnt virulent. Der vorliegende Band wagt einen epochenübergreifenden Vergleich. Den Herausgebern zufolge muss die Frage allerdings differenzierter gestellt werden: Einen „Minimalkonsens, was Tyrannei war und ist“, gebe es wohl, doch müsse auch danach gefragt werden, wer im Verhalten von Machthabern welche Normverstöße erkannte und sie darum als Despoten betrachtete.
Der thematisch erfreulich stringente Band gibt dazu reichlich Denkanstöße. Dass es zwar eine Einführung, am Ende aber keine Bilanz gibt, ermöglicht der Leserschaft, sich eigene Urteile zu bilden. Als Minimalkriterium der Tyrannei erweist sich – neben realer oder unterstellter Grausamkeit – tatsächlich am ehesten der Bruch mit Erwartungen: Der römische Kaiser Caligula zog sich den Zorn des Senats zu, indem er nicht mehr verschleierte, wer inzwischen die Macht hatte. Wladimir Putin hingegen, Regent einer Großmacht mit Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat, agiert wie im 19. Jahrhundert und bricht rücksichtslos das geltende Völkerrecht. Dies wirft die Frage auf, ob durch internationale Rechtsnormen neuzeitlich klarer objektivierbar ist, wer ein guter und wer ein schlechter Herrscher ist, während insbesondere vormoderne Herrscher mit den partikularen Wertvorstellungen und Machtinteressen der Elite konfrontiert waren.
Spannend sind dennoch auch die Fälle, die sich in dieses recht simple Muster nicht ohne weiteres einfügen. So bezeichnete Friedrich Wilhelm I. sich selbst freimütig als Tyrannen – in der borussischen Sicht auf die Geschichte wurde er aber zum Vordenker verklärt. Der belgische König Leopold II. gab sich zu Hause als Sozialreformer, während er im Kongo eines der grausamsten Kolonialregimes führte, was seine Bewertung in Belgien bis heute erschwert. Dass er zu Hause in seinem Handeln konstitutionell begrenzt wurde, während er in Afrika freie Hand hatte, wird dabei bisweilen übersehen. Mao Zedong spielte regelrecht mit historischen Tyrannenverweisen, die nicht wissenschaftlich, sondern nach aktuellen politischen Bedürfnissen (um)gedeutet wurden.
Gern würde der Rezensent auf weitere Kapitel, etwa zu Napoléon Bonaparte oder Robert Mugabe, eingehen, doch reicht der Platz leider nicht. Die einzelnen Beiträge bieten für Fachleute nichts Neues, aber das ist auch nicht das Ziel. Dass Hitler und Stalin nicht auftauchen, weil „ihre Verbrechen … mit denen der anderen inkommensurabel [nicht vergleichbar]“ wirken, ist intuitiv verständlich, widerspricht aber der kurz zuvor getroffenen Feststellung: „Tyrannei lässt sich nicht quantifizieren.“ Um solche Zwickmühlen zu umgehen, könnte die Geschichtswissenschaft vom politologischen Konzept der Autokratie profitieren. Laien müssen solche methodischen Probleme nicht kümmern. Es bleibt auch für sie eine gewinnbringende Lektüre.
Rezension: Dr. Philipp Deeg
André Krischer/Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.)
Tyrannen
Eine Geschichte von Caligula bis Putin
Verlag C. H. Beck, München 2022, 352 Seiten, € 29,95