Der Wunsch, die Zukunft vorherzusehen, ist dem Menschen wohl zu allen Zeiten eigen. Die Wahrsagekunst des alten Mesopotamien, der Landschaft zwischen Euphrat und Tigris, verbreitete sich über den gesamten alten Orient und war sogar in der griechischen und römischen Antike berühmt.
Dieser Kunst widmet Stefan Maul ein auch für den nicht Keilschriftkundigen wunderbar gut lesbares und zugleich zutiefst gelehrtes Buch, das unser umfangreiches Wissen zu dieser Thematik zusammenfasst und verschiedentlich erweitert. Die Überlieferungslage ist für ein solches Vorhaben ideal, weil Tausende von Keilschrifttexten mit Zehntausenden von Orakeln die Zeiten überdauert haben.Sumerer, Babylonier und Assyrer pflegten unterschiedliche Orakeldisziplinen. Die wichtigste dieser Disziplinen war die Eingeweideschau, bei der die Leber eines jungen, männlichen Lammes inspiziert wurde. Nur Reiche konnten sich das leisten: Ein Palast eines Reiches mittlerer Größe verbrauchte pro Tag mehrere Dutzend Lämmer, um seine politischen Entscheidungen zu begründen und zu rechtfertigen. Mauls Analyse der Funktionsweise der komplexen Leberschau führt uns an die Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeiten, weil wir heute nur noch teilweise nachvollziehen können, wie die Seher zu ihrer Bewertung der beobachteten Befunde und zu ihren Vorhersagen gelangten.
Preisgünstige Varianten der Wahrsagerei waren die Vogelschau, bei der die Haut und die Eingeweide besonders von Tauben inspiziert wurden, außerdem das Ausschütten von Mehl, das Ausgießen von Öl auf Wasser oder die Beobachtung von Rauch. Konkurrenz bekam die Opferschau durch die Astrologie, die im 1. Jahrtausend v. Chr. in Mesopotamien eine hohe Blüte erfuhr und mit der Opferschau zu einer von hochgebildeten Gelehrten ausgeübten Wahrsagewissenschaft zusammenwuchs. Sie konnte sich auf einen umfangreichen schriftlichen Kanon stützen.
Eine Beurteilung der Wahrsagekunst als Aberglaube wird nach Maul ihrer Leistung für den alten Orient nicht gerecht. Vielmehr hätte das differenzierte Bild der Zukunft, das die Orakel entwarfen, die permanente Reflexion der Gegenwart gefördert, auf deren Basis selbstsicher, optimistisch und umsichtig Entscheidungen für die Zukunft getroffen werden konnten. Nur so sei verständlich, dass die altorientalischen Kulturen Mesopotamiens über Jahrtausende erfolgreich bestehen konnten.
Rezension: Prof. Dr. Michael P. Streck