Wie lässt sich heute eine „deutsche Geschichte“ des 20. Jahrhunderts erzählen? So fragt Michael Wildt in der Einleitung zu seiner umfangreichen Darstellung deutscher Geschichte zwischen 1918 und 1945. Statt einer „vormaligen Gewissheit, dass die deutsche Geschichte eine Einheit bilde“, wie sie noch Golo Mann besaß, knüpft Wildt im Einklang mit anderen Zeithistorikern wie Thomas Nipperdey, Ulrich Wehler oder Ulrich Herbert „an die Pluralität, Vielgestaltigkeit und Vielzeitigkeit von Geschichten im 20. Jahrhundert“ an. Statt wenige handelnde „große Männer“ stellt Wildt daher die Vielstimmigkeit der Akteure und Akteurinnen, die auf „ihre Weise ihre Geschichte machen“, in den Mittelpunkt. Die Beachtung von Brüchen und Diskontinuitäten soll zudem ein allzu glattes Bild einer Nationalgeschichte verhindern.
Vielstimmigkeit erreicht Wildt unter anderem durch die Verwendung verschiedener Tagebücher. Diese stammen nicht nur von bekannten Personen wie Käthe Kollwitz oder Oskar Maria Graf, sondern etwa auch von der Hamburger Lehrerin Luise Solmitz oder vom Gastwirt und Abgeordneten der Zentrumspartei Matthias Joseph Mehs aus Wittlich. Unter anderem zieht Wildt dessen Notate heran, um zu beschreiben, wie die nationalsozialistische Machteroberung in dem katholisch geprägten Ort gelingen konnte. Mit Wildts „Deutscher Geschichte“ erwartet die Leser eine anregende Lektüre.
Rezension: Dr. Heike Talkenberger
Michael Wildt
Zerborstene Zeit
Deutsche Geschichte 1918 bis 1945
Verlag C. H. Beck, München 2022, 640 Seiten, € 32,–